Farid Hosseini beschwert sich über die US-Soldaten, die in seine Ortschaft Baraki Barak gekommen sind. Er betreibt eine Apotheke direkt neben dem größten Krankenhaus des gleichnamigen Bezirks, 70 Kilometer südöstlich der Haupstadt Kabul gelegen, aber hier, sagt er, hat er die Soldaten vorher noch nie gesehen: „Wie kann das sein! Sie sind schon seit mehr als sechs Jahren in Afghanistan stationiert, und bei uns im Ort gäbe es so viel zu tun, aber hier haben sie noch nie ein Projekt gemacht.“
Nach einem Selbstmordattentat auf einen US-Konvoi im April in Jalalabad im Osten Afghanistans eröffneten US-Soldaten das Feuer auf PassantInnen. Sechs Menschen, darunter eine Frau und ein Kind wurden getötet. Mehrere Tage lang demonstrierte in der Stadt eine aufgebrachte Menschenmenge gegen die US-Präsenz in Afghanistan. Die Demonstranten riefen „Tod den USA!“ und „Tod Präsident Bush!“
In Hosseinis Apotheke stehen ein paar vereinzelte Medikamente in den Regalen. Die US-Soldaten sind gekommen, um dem Krankenhaus in der Nachbarschaft zwei Kartons mit Medikamenten zu spenden. Doch wie viele in Afghanistan hat sich Hosseini über die Vorgehensweise der US-Amerikaner in Jalalabad geärgert: „Die westlichen Soldaten müssen unser Volk, unsere Kultur und unsere Religion respektieren. Vorfälle wie in Jalalabad sollten nicht wieder vorkommen. Für Selbstmordanschläge kann man doch nur die Attentäter verantwortlich machen, nicht die Passanten, die gerade dabeistehen.“
Ist Hosseini also dafür, dass die westlichen Truppen abziehen? Nein, ganz im Gegenteil, sagt er: „Ich bin froh, dass die westlichen Truppen hier sind. Das Wichtigste für uns ist, dass wir Sicherheit bekommen.“
Sicherheit und Friede: In dieser Hinsicht dürfte Farid Hosseinis Meinung typisch für einen Bewohner Afghanistans sein. Viele beschweren sich in dem Land über Taktik und Vorgehensweise der westlichen Soldaten, aber ihre Präsenz stellen sie nicht in Frage. Der Grund dafür sei, sagt nicht nur Hosseini, dass nach fast drei Jahrzehnten des Bürgerkrieges die westliche Truppenpräsenz die beste Chance Afghanistans darstelle, in Zukunft irgendwann einmal in Frieden und Sicherheit leben zu können.
Die Soldaten in Baraki Barak gehören zum US-amerikanischen Wiederaufbau-Team in Gardez, der Hauptstadt der Paktia-Provinz. Die 35 von zehn Nationen betriebenen Wiederaufbau-Teams in Afghanistan haben vor allem die Aufgabe, Entwicklungsprojekte in ihrer Region zu initiieren. Aber selbst ein nur einwöchiger Aufenthalt als Journalist bei diesem Team in Gardez – einer Einheit, die nur am Rand in den Krieg gegen die Taliban involviert ist –, zeigt deutlich, dass der im Frühjahr 2006 begonnene Angriff der Taliban die westliche Koalition völlig überrascht hat und auch im zweiten Jahr des Krieges noch vor enorme Probleme stellt.
Der Schwerpunkt der Hilfe der US-Amerikaner im von den Taliban geplagten Osten und Süden Afghanistans liegt vor allem bei der Ausbildung und Ausstattung der afghanischen Sicherheitskräfte. In Gardez haben sie eine Kaserne für die afghanische Nationalarmee gebaut. Sie verfügt über ein hochmodernes 50-Betten-Hospital um 12,5 Millionen US-Dollar, für das es nicht genügend Personal gibt und in dem gerade drei Patienten behandelt werden. Ein zweites Krankenhaus mit weiteren 50 Betten wird gleich daneben errichtet. Außerdem wurde mit US-Geld ein regionales Ausbildungszentrum für die afghanische Polizei errichtet. Und die Anfang Mai geplante Eröffnungszeremonie der Kaserne der staatlichen Polizei musste verschoben werden, weil sich die Polizeiführung in Gardez nicht einigen konnte, unter wessen Bewachung die Kaserne stehen wird. Zwei weitere Kasernen, für die Verkehrspolizei und die Schutzpolizei, stehen noch leer, weil sich die Einheiten noch in der Ausbildungs- bzw. Gründungsphase befinden.
Dennoch erscheint die afghanische Polizei völlig überfordert. Beim Besuch des Wiederaufbau-Teams bei der Polizeistation am Fuße des strategisch wichtigen Sato Kandow-Passes, 40 Kilometer östlich von Gardes, berichtet der Polizeichef Major Samerud Sazai, dass für seine Station eine Sollstärke von 63 Polizisten vorgesehen sei. Zusammen mit ihm arbeiteten dort aber nur 14 Mann. Bei einem früheren Besuch hat ihm das Wiederaufbau-Team ein Funkgerät mitgebracht. Damit kann er mit den US-Amerikanern in Gardez Verbindung aufnehmen. Mit ihren alten Funkgeräten können sich seine Polizisten jedoch nur verständigen, falls kein Hindernis die Funkstrecke versperrt.
Der stellvertretende Chef der Anti-Drogen-Polizei von Gardez, Oberst Hassan Sahraie, sagt, dass solche Polizeireviere in Afghanistan keine Ausnahme seien: „Die Situation der Polizei in Afghanistan ist sehr schwierig. Im Kampf gegen die Taliban steht sie in vorderster Front und ist den Angriffen der Selbstmordattentäter ausgesetzt. Aber wir haben zu wenig Personal und zu wenig Waffen, und das Gehalt der Polizisten ist viel zu niedrig. Es reicht nicht einmal aus, um ab und zu die Familie zuhause zu besuchen.“
Nach einem Bericht von Human Rights Watch ist die Zahl der Selbstmordanschläge in Afghanistan von vier im Jahr 2004 auf 136 im Jahr 2006 angestiegen. In der ersten Maiwoche hat sich ein Mann, Anfang 20, in der Nähe des Regionalen Trainingszentrums der Polizei in Gardez in die Luft gesprengt. Ein 14-jähriger Junge wurde getötet. Zwei Wochen später gab es auf dem Markt von Gardez ein weiteres Selbstmordattentat. 14 Menschen kamen dabei um, mehr als 30 wurden verletzt. Rund 150 afghanische Sicherheitskräfte, die Mehrheit Polizisten, wurden im vergangenen Jahr bei Angriffen der Taliban getötet. In fast allen Provinzen im Osten und Süden des Landes gibt es Bezirke, in denen die staatliche Verwaltung kaum präsent ist und die mehr oder weniger von den Taliban regiert werden.
Anfang Mai hat die afghanische Regierung deshalb angekündigt, die Zahl der Polizisten innerhalb eines Jahres von 64.000 auf 82.000 zu erhöhen. Doch Major Sazai aus der Station vom Sato Kandow-Pass sagt, dass die Hälfte seiner Männer nach Ablauf ihres Dreijahresvertrages nicht mehr verlängern wollen. Denn im Augenblick werden die Gehälter der afghanischen Sicherheitskräfte ausschließlich von der westlichen Gemeinschaft bezahlt – 70 Dollar im Monat für einen Polizisten und 100 für einen Soldaten. Nach Presseberichten können die Taliban ihren Kämpfern jedoch monatlich 200 Dollar oder mehr zahlen.
Der Sold der Regierung müsse jedoch so niedrig sein, sagt der UN-Sondergesandte in Afghanistan, der deutsche Grünen-Politiker Tom Königs, damit Afghanistan irgendwann einmal selbst die Finanzierung des Sicherheitsapparats übernehmen kann. Die Größe der Aufgabe jedoch, die Polizei in Afghanistan aufzubauen, meint er, hat die westliche Gemeinschaft unterschätzt: „Im Kosovo haben wir, um eine Polizei mit 10.000 Polizisten aufzubauen, 4.800 Ausbilder geschickt. In Afghanistan hat Deutschland 40. Jetzt schickt die EU noch einmal 160. Die Amerikaner schicken auf unterschiedlichem Qualitätsniveau noch einmal einige hundert. Letzten Endes bräuchte man aber tausende.“
Die Hauptstadt Kabul war bisher kaum von den Angriffen der Taliban betroffen, eine gewisse Normalität ist dort eingekehrt. Tagsüber sind die Straßen mit Autos verstopft. An vielen Ecken der Stadt wird neu gebaut, und, anders als noch vor zwei Jahren, gehen die BewohnerInnen der Stadt abends einkaufen oder spazieren.
Aber die Gespenster des fast drei Jahrzehnte lang dauernden Bürgerkrieges lassen Afghanistan nicht so schnell los. Nach Schätzungen von Human Rights Watch sind ein Drittel der Abgeordneten im afghanischen Parlament Warlords oder in den Drogenhandel verwickelt. Eine große Gruppe der Abgeordneten hat sich im März gegen Präsident Hamid Karzai zur Nationalen Front zusammengeschlossen. In der Front sind viele prominente vormalige Kommunisten, Mudschahedin und ehemalige Taliban vertreten, die mit ihrer Mehrheit im Parlament ein Amnestiegesetz verabschiedet haben. Das Gesetz sieht vor, dass politische Verbrechen während der mehr als 25 Jahre Bürgerkrieg in Afghanistan nicht strafrechtlich verfolgt werden. Zwar steht es auch nach dem Gesetz jedem Einzelnen frei, Warlords individuell zu verklagen. Das erscheint bei dem Klima der Angst, das in Afghanistan herrscht, und dem Zustand der Gerichte jedoch unrealistisch. Ein künftiges Parlament könnte das Amnestiegesetz wieder aufheben, und Kriegsverbrechen fallen ohnehin in die Zuständigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit. Aber die Verabschiedung des Gesetzes hat dennoch etwas über die Machtverhältnisse in Afghanistan offenbart. Seit den parlamentarischen Debatten über das Gesetz wurde die Umsetzung eines lange von den Vereinten Nationen ausgearbeiteten Aktionsplanes auf Anordnung von Präsident Karzai ausgesetzt. Er sah eine schrittweise Überprüfung aller Amtsträger in Afghanistan vor, die, im Falle ihrer nachweislichen Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen entlassen oder angeklagt werden sollten.
Durch die Angriffe der Taliban im Süden und Osten des Landes stehen die afghanische Regierung und die Truppen der NATO-Staaten unter Druck. Nach jüngsten Umfragen ist eine Bevölkerungsmehrheit in Großbritannien, Kanada und Deutschland für einen Abzug ihrer Truppen. Für die Taliban dürfte es in Zukunft also schon ausreichen, das Ausmaß ihrer Angriffe aufrecht zu erhalten, so dass in den nächsten Monaten oder Jahren die Stimmen im Westen für einen Abzug immer lauter werden.
Und dafür, dass die westlichen Truppen irgendwann aufgeben und das Land verlassen werden, spricht auch die schiere Größe der Aufgabe, Afghanistan aufzubauen – auch ohne die Angriffe der Taliban. Denn der Aufbau beginnt fast von Null. Nach fast drei Jahrzehnten Bürgerkrieg ist Afghanistan in einem äußerst schlechten Zustand. Fast die Hälfe des Landes besteht aus Hochgebirgen, und im flachen Rest ist der Boden trocken und karg. Von jeher war Afghanistan ein armes Bergland, in dem es keine erwähnenswerte Industrie gab. Und ohne westliche Hilfe ist es unvorstellbar, wie sich ein solches Land eine eigene Polizei oder Armee leisten kann, die Krieg gegen eine Guerilla-Armee führt.
Farid Hosseini muss das niemandem erzählen. Das Krankenhaus in Baraki Barak hat keine Apparatur, um Instrumente zu sterilisieren, keine Kühlschränke, um Blut oder Medikamente zu kühlen, und oft keinen Strom. Und wie im Rest Afghanistans stirbt hier jedes vierte Kind, bevor es fünf Jahre alt wird. Das ist immer noch eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten weltweit. „Krank werden sollten Sie hier nicht“, sagt Hosseini – und er muss es wissen.