„Sich zurückzuziehen wäre der falsche Weg“

Von Richard Solder · · 2019/Jan-Feb

Die langjährige Politikerin Ulrike Lunacek spricht über die nahenden Europawahlen, die schwierige Zeit rund um die letzte Nationalratswahlen und die Rolle von NGOs heute.

Interview: Richard Solder

Sind die Europawahlen ein Showdown zwischen, vereinfacht gesagt, rechtspopulistischem und progressivem Lager in Europa?

Zum Teil, ja. Weil es das erste Mal ist, dass Wahlen stattfinden, nachdem ein Land – womöglich – ausgetreten sein wird. Der Brexit hat eine ganz bestimmte Gruppe von Kritikerinnen und Nationalisten bestärkt. Kritik an der EU gibt es genug, in vielen Bereichen, die habe auch ich. Aber das Friedensprojekt Europa muss weiterentwickelt werden und darf nicht zerstört werden.

Es geht also um die „Anti-EU“-Parteien?

Um jene, die nicht nur EU-skeptisch sind, sondern die mit einem Austritt liebäugeln. Oder sie so umbauen wollen, dass die EU nur eine Wirtschaftsunion und nicht auch eine politische und soziale ist – gerade dafür kämpfen aber Menschen wie ich.

Was ist heute in Europa anders als noch vor ein paar Jahren?

Der Zuwachs, den rechte Parteien und Gruppierungen bekommen. Das hat auch damit zu tun, dass man mit genug Ressourcen via sozialen Medien Wählerinnen und Wähler manipulieren kann, wie es etwa aktuell auch im Wahlkampf in Brasilien passiert ist. Die sozialen Medien stellen damit eine Gefahr für die Demokratie dar.

Demokratie heißt unter anderem, dass auch Minderheiten gehört werden und Themen ausverhandelt werden.

Waren die Rechtspopulisten in der Nutzung von Facebook, Twitter & Co. in Europa einfach schneller als die anderen?

Wir anderen haben sicher unterschätzt, wie gut vernetzt und organisiert rechte Parteien und Gruppierungen diesbezüglich sind – etwa jene, die Anti-Propaganda in Sachen LGBTI machen. Die Grünen haben als Partei schon auch investiert, offenbar immer noch zu wenig. Aber man muss die Finanzen dafür erst einmal haben. Hinter rechten Parteien stehen oft potente Geldgeber.

Ulrike Lunacek war von 1989-1992 Redakteurin der Entwicklungspolitschen Nachrichten bzw. des Südwind-Magazins und von 1993-1995 Südwind-Pressereferentin. 1995 wechselte sie in die Politik, war von 1996-98 Bundesgeschäftsführerin, von 1999-2009 Nationalratsabgeordnete der Grünen (u.a. Entwicklungspolitiksprecherin). Von 2009 bis 2017 war sie Europaabgeordnete, von 2014-2017 Vizepräsidentin des Europaparlaments. Nach der glücklosen Spitzenkandidatur für die Nationalratswahl 2017 legte sie alle politischen Funktionen nieder, seither ist sie freiberuflich als Autorin und Referentin tätig.

Besteht die Gefahr des Zerfalles der EU in den nächsten Jahren?

Die EU darf nicht zerfallen. Das geht auch nicht so leicht. Es könnte zudem sein, dass das Negativbeispiel für einen Ausstieg, der Brexit, einige zur Besinnung bringt. Jedenfalls werden die Kräfte, die die EU zerstören wollen, im Zuge der Europawahl zwar stärker werden, aber nicht die Oberhand bekommen, davon bin ich überzeugt.

Verstehen genug Menschen in Europa noch die positiven Seiten des Projekts?

Naja, ich denke schon, dass es zum Beispiel in Osteuropa Herausforderungen gibt. Da sind die Staaten sehr schnell nach der Unabhängigkeit 1989 in einen neuen großen Kontext gegangen. Viele Bürgerinnen und Bürger dort sehen ihre soziale Lage sehr viel schwieriger als davor. Teils gibt es weniger Jobs und Sozialleistungen. Das hat natürlich in erster Linien mit der Globalisierung an sich zu tun.

Aber doch auch viel mit der EU …

Ja. Viele haben richtigerweise bei der Entstehung der sogenannten Maastricht-Kriterien 1992 (um Teil der Eurozone zu werden, müssen EU-Mitgliedstaaten laut Vertrag von Maastricht verschiedene Kriterien erfüllen, Anm. d. Red.) gefordert, dass soziale Kriterien dazugehören – und nicht rein wirtschaftliche.

Also die EU hat da schon Mitschuld. Aber „die EU“ ist nicht ein fernes Gebilde in Brüssel, das sind wir: die nationalen Regierungen, die mitentscheiden; die EU-Parlamentarier, die Kommission, die Bürgerinnen und Bürger. Für Nationalisten ist die EU ein Fremdkörper, der ihnen Gesetze aufzwingt.

Das Studierenden-Austausch-Programm Erasmus wird gut angenommen. Müsste man in solche Initiativen nicht mehr investieren oder mehr Ideen wie gratis Interrail durch Europa umsetzen?

Doch, finde ich schon. Es müsste jeder und jedem zwischen 16 und 20 ermöglicht werden, die EU-Institutionen in Brüssel zu besuchen – so wie Wien- oder Schullandwochen. Meiner Erfahrung nach sind derartige Besuche – vor allem auch die Erfahrung der Lebendigkeit des Europaparlaments – sehr prägend, und die große Mehrheit fährt mit überwiegend positiven Eindrücken zurück. Derartige Exkursionen sollten von Bund, Ländern und Gemeinden sowie Interessenvertretungen mitfinanziert werden. Und man sollte bestehende Angebote in die Richtung stärker kommunizieren.

Wie könnte man noch die Identifikation der Menschen mit Europa stärken?

Auf der einen Seite wäre es notwendig, dass Regierungsmitglieder selbst zu auf EU-Ebene gefassten Beschlüssen stehen und nicht die Schuld dafür auf „Brüssel“ oder „die EU“ schieben.

Wichtig wäre zudem die Schaffung europaweiter Listen. Damit könnten Kandidatinnen und Kandidaten für das Europaparlament nicht nur in ihrem Mitgliedstaat, sondern auf transnationalen Listen ihrer europäischen Parteien, die es seit 2004 gibt, kandidieren.

Es gab im Europaparlament mehrere Initiativen dafür, jedoch fanden sie im Plenum keine Mehrheit. Transnationale Listen würden bedeuten, dass der Wahlkampf europäisch geführt werden muss – nicht zuletzt in den Medien. Die Europäischen Grünen haben schon 2004 begonnen, einen gemeinsamen europäischen Wahlkampf zu führen.

Die EU-Kommission unterstützt mit Entwicklungsgeldern Grenzschutz in afrikanischen Staaten, EU-Staaten kooperieren mit Diktatoren – beides u.a. um Migrantinnen und Migranten fernzuhalten. Was sagen Sie dazu?

Diese fehlgeleitete Entwicklung widerspricht diametral allen entwicklungspolitischen Grundsätzen! Würde es mehr Unterstützung, auch finanzielle, in nachhaltiges, ökologisch und sozial gerechtes Wirtschaften geben, und auch für demokratische statt autoritäre Entwicklungen, dann hätten mehr Menschen ein Auskommen und ein menschenwürdiges Leben in ihren Herkunftsländern.

Auch die einseitigen Handelsabkommen gehörten geändert. Wenn europäische Nahrungsmittel billigst auf lokalen afrikanischen Märkten landen und die einheimischen Bäuerinnen und Bauern ihre Produkte nicht mehr verkaufen können, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn Menschen ins „gelobte Land“ Europa ziehen wollen.

Wobei man in Bezug auf „die EU“ bzw. die Kommission präzisieren muss …

Und zwar?

Gesetze werden von Europaparlament und Europäischem Rat beschlossen, die Mitgliedsländer – sie sind alle im Rat vertreten – müssen diese dann umsetzen.  Die Kommission hat gerade bei der Migration schon seit langem, auch schon vor 2015, Vorschläge für ein gemeinsames europäische Migrations- und auch Asylsystem gemacht. Jedoch haben die Regierungen der Mitgliedsländer nicht mitgespielt. Auch nicht bei der Verteilung der Flüchtlinge, die sogar im Innenministerrat mit Mehrheit, ganz demokratisch, beschlossen wurde. Die Kommission und auch der Europäische Auswärtige Dienst darf in der Außenpolitik leider nur tun, was die Regierungen erlauben. Das muss geändert werden.

Berichten Medien ausreichend über Europa-Politik?

Medien tun sich auch schwer damit, weil Innenpolitisches immer wichtiger ist. Oft fehlt schlicht der Raum. Und dann haben Medien eigene Gesetze wie „Good news are bad news“ oder, dass wichtige Ausschussarbeit keine Geschichte hergibt. Europa-Politikerinnen und -Politiker müssen vorsichtig verkürzen und Dinge anschaulicher machen, um dem entgegenzuwirken.

2017 wurden Sie Spitzenkandidatin für die Grünen bei den Nationalratswahlen. Ein Fehler?

Nein. Ich hab mich selber auch mehrmals gefragt, ob ich in der gleichen Situation wieder so handeln würde. Und komme immer zum Schluss: Ja, ich würde es wieder tun.

Ihr Standing in der Europapolitik, vor allem als Vizepräsidentin des Europaparlaments seit 2014, war ja sehr gut …

Es war auch die beste Zeit meines politischen Lebens. Ich konnte einiges bewegen.

Nach dem raschen Abgang der langjährigen Parteichefin Eva Glawischnig relativ knapp vor Beginn des Wahlkampfes wirkte Ihre Rolle schwierig und undankbar.

Es war schon so. Aber ich hätte auch Nein sagen können, ich habe mir das gut überlegt. Wir dachten, dass wir das schaffen. Es macht mich aber immer noch wütend und traurig, wie die Wahl ausgegangen ist.

Sie waren lange in der Politik. Auch wenn man sich den Abgang Glawischnigs ansieht – ist es heute schwieriger geworden als Frau in diesem Geschäft?

Schon. Denn bei den Angriffen ist ganz viel Sexismus dabei. Viel war ich schon gewohnt – aber mit den sozialen Medien ist es viel heftiger geworden, gerade für Frauen. Was übrigens auch für das persönliche Umfeld nicht leicht ist.

Seximus, Rechtsruck in Europa, den USA und etwa Brasilien, autoritäre Entwicklungen in einigen Staaten: Macht die Welt gesellschaftspolitisch nach einem Schritt vorwärts in der Zeit davor derzeit zwei zurück?

Ja, oder die Rolle rückwärts. Ich denke, dass dieser Backlash auch eine Reaktion auf das ist, was wir in den vergangenen 20, 30 Jahren erreicht haben: Mehr Frauen in wichtige öffentliche Positionen zu bringen, zum Beispiel. Gerade in Zeiten, in denen Menschen verunsichert sind, etwa wenn es um Arbeitsplätze geht, haben dann Männer mitunter Sorge, übrig zu bleiben.

Da muss man im eigenen Haushalt anfangen: bei der Hausarbeit, bei der Kinderbetreuung – da braucht es genauso eine andere Aufteilung wie im Beruf. Zudem könnte man die Arbeitszeit auch anders organisieren.

Südwind wird dieses Jahr 40 Jahre alt. Haben NGOs heute eine andere Funktion als damals?

Nein, sie sind als Teil der Zivilgesellschaft ein essenzieller und sehr lebendiger Teil der Demokratie. Was sich geändert hat, ist die Art und Weise des Arbeitens: Vor 40 Jahren – in den 1970er Jahren, kurz nach dem 68er Jahr – war eine Zeit des Aufbruchs, kritisches Denken war „in“. Menschen begannen sich zu organisieren, um Dinge zu verändern. Vieles musste gelernt und aufgebaut werden. Zu Beginn war in vielen NGOs der Anspruch da, dass alle alles machen und gleich bezahlt werden, dass alles in lange dauernden Sitzungen ausdiskutiert wird, bzw. dass viel Arbeit von Freiwilligen gemacht wird. Das hat sich fundamental geändert.

Inwiefern?

Die meisten NGOs haben heute professionelle Organisationsstrukturen, auch die Freiwilligenarbeit ist gut koordiniert. Dadurch können sie auch mehr erreichen als früher.

Aber das Umfeld ist heute schwieriger geworden. Damals ging es darum, fortschrittliche Anliegen wie einen selbstkritischen Blick auf die Entwicklungshilfe oder auf das Geschlechterverhältnis zu diskutieren und gesellschaftspolitisch zu verankern. Und es ging darum, öffentliche Subventionen für die Arbeit zu lukrieren.

Heute muss gegen den Backlash angekämpft werden, sowohl gesellschaftspolitisch als auch finanziell, wenn eine Regierung wie jetzt Türkis-Blau vielen kritischen NGOs und Initiativen die Subventionen kürzt oder ganz streicht.

Warum wird heute der globale Süden nach wie vor nicht auf Augenhöhe mit dem Norden gesehen?

Weil sich die Machtverhältnisse nicht so geändert haben, wie wir in den entwicklungspolitischen NGOs uns das damals erhofft und vorgestellt hatten: Immer noch ist die Dominanz der Industrieländer gegeben; immer noch – trotz beachtlicher Fortschritte in der Armutsbekämpfung – findet Ausbeutung von Ressourcen zu menschenunwürdigen und ökologisch zerstörerischen Bedingungen statt; immer noch haben demokratische Strukturen und eine massive Umverteilung von Reich zu Arm in den meisten Ländern des Südens nicht Einzug gehalten. Intransparenz der Finanzwirtschaft erlaubt weiterhin, dass Diktatoren und andere korrupte Akteure ihre Gelder in europäischen Banken vermehren lassen.

Und: Frauen haben immer noch viel zu wenig zu sagen in den meisten Gesellschaften und Staaten. Nicht, dass die Welt perfekt wäre, säßen Frauen überwiegend an den Schalthebeln der Macht. Aber ein Stück besser und friedlicher wäre sie, davon bin ich überzeugt.

Stichwort Backlash: Wie gibt man in Zeiten wie diesen jungen Menschen, die sich engagieren wollen, Hoffnung?

Indem man ihnen sagt, dass gerade in Zeiten wie diesen Engagement besonders wichtig ist, das ist jetzt die Essenz. Sich zurückzuziehen wäre der falsche Weg. Es gibt ja unterschiedlichste Möglichkeiten und Ebenen sich zu engagieren, angefangen bei lokalen Initiativen.

Wie geht es mit Ihnen weiter?

Ich habe das Privileg, dass ich durch meine Erfahrungen und vorherigen Tätigkeiten viele Einladungen zu Projekten bekomme. Ich genieße es derzeit, freiberuflich zu sein. Ein bis zwei Mal im Jahr würde ich gerne OSZE/ODIHR-Wahlbeobachtungen leiten, wie ich es schon in der Vergangenheit gemacht habe. Zudem bin ich Teil des Projektes „Frauen denken den Irak neu“, das vom deutschen Außenamt mitfinanziert wird.

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