Sexualität – Von Zügellosen und Verschämten

Von Cheryl Benard und Edit Schlaffer · · 2003/06

Sexualität ist so vielfältig und bunt wie die Menschheit, und immer ist sie auch ein Spiegelbild der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Cheryl Benard und Edit Schlaffer

Sowohl aus historischen Gründen – hier handelt es sich schließlich um die ursprüngliche Hochkultur – wie auch aus aktuellem Anlass beginnen wir unsere Erkundungen über die Sexualität im Nahen Osten. Am besten im Irak, damals Mesopotamien. Für EuropäerInnen, die vielleicht mit einem gewissen Stolz an die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts zurückdenken, ist das eine ernüchternde Recherche, denn 2000 Jahre v.Chr. waren die Menschen jener Kultur so ziemlich auf dem Stand, den wir heute als modern und liberal begreifen: Frauen galten in aller Selbstverständlichkeit als aktive sexuelle Wesen, der sexuelle Akt als interaktives Geschehen mit dem Ziel, beide Seiten zu erfreuen, Homosexualität unterlag keinen Sanktionen oder Stigmatisierungen, aber auch der Gefühlsseite wurde Rechnung getragen. Liebe, Sehnsucht, Begierde, Eifersucht, Zärtlichkeit, das alles finden wir in Tausende Jahre alten Texten – die hoffentlich nicht im Museum von Bagdad aufbewahrt waren.
Weder Prüderie noch eine krasse Trennung der Geschlechter in Lebensbereiche und Zuständigkeiten behinderten die Intimität.
Diese Intimität finden wir auch dort noch, wo es um die Folgekosten der Sexualität geht, etwa in dem rührenden Brief einer jungen Frau an ihren Mann, in dem sie ihn von einer Fehlgeburt im siebten Schwangerschaftsmonat unterrichtet, und ihm anvertraut, dass sie auch Angst gehabt hatte, selbst zu sterben und wie schwer es war, das alles alleine durchstehen zu müssen, ohne seine Nähe.
Die Ehebeziehungen in dieser Zivilisation waren monogam, wenn auch nicht immer von perfekter Treue gekennzeichnet. Ein Text der uns schon allein deshalb beeindrucken muss, weil er 38 Jahrhunderte alt ist, schildert die strategischen Gedanken einer Frau, die ihren Mann aus den Klauen der Geliebten befreien will. Aus dem Kampf mit der Rivalin geht sie siegreich hervor, und in der letzten Strophe beteuert ihr Mann, dass er sie noch genauso sehr liebt wie in ihrer Jugend, und dass er sie ab nun nur noch als „die Bezaubernde“ bezeichnen wird. Medizinische Texte halfen Ärzten dabei, „Liebeskrankheit“ zu erkennen und sie nicht mit anderen Leiden zu verwechseln – ein solcher Mann „räuspert sich oft, hat keinen Appetit, und zieht sich deprimiert in verlassene Ecken der Felder zurück. Und manchmal stöhnt er ‚Ach! Mein armes Herz!‘“
Und der Verfasser schließt mit der Beobachtung, „Ob Mann oder Frau, für beide ist es gleich.“

Die schiere Erotik kommt in den überlieferten Texten keineswegs zu kurz. Eindrucksvoll und mitunter atemberaubend ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen eine aktive, sogar aggressive Sexualität zugeschrieben und auch zugebilligt wurde.
„Komm schon! Zögere nicht! Liebe mich, weil ich brenne! Und der Gott Ningursu wird dafür sorgen, dass auch ich deine Leidenschaft befriedige.“
Die sprachlichen Ausdrücke für sexuelle Belange sind oft aufschlussreich. In diesem Fall vermitteln sie den Eindruck einer Kultur, die Sinnlichkeit bejahte. Der sexuelle Akt des Mannes gegenüber seiner Partnerin hieß „nish libbi“, ihr Herz erheben; ein anderer Ausdruck lässt sich übersetzen mit „machen, dass sie freudig lacht.“
Jean Bottero, einer der bekanntesten Assyriologen, fasst zusammen: „In sexuellen Fragen waren die Frauen dieser Gesellschaft dem Mann absolut gleichgestellt; sie hatte dasselbe Recht auf Erfüllung wie er, und war weder ein Lustobjekt noch ein Instrument seiner Begierde, sondern ein echtes Gegenüber.“
Diese frühe Zivilisation setzte einen hohen Standard; was folgte, konnte sich nicht immer daran messen. Wir aber wollen unseren Blick nun auf den Islam richten.
Wie steht dieses Glaubensgebäude zu Fragen der Sexualität und Liebe? Dazu gibt es, wie wir aus einer Durchsicht der überaus voluminösen Literatur zu diesem Thema schnell erkennen, vier sehr deutliche und absolut konträre Positionen. Diese Positionen können wir wie folgt umschreiben:

Der Islam hatte von Anfang an eine besonders aufgeschlossene und positive Einstellung zur Sexualität und zur Organisation des Privatlebens.

Der Islam hatte eine dekadente Einstellung zur Sexualität, die den ungehemmten Gelüsten von Männern sehr entgegenkommt, auf Kosten der Frauen.

Der Islam bezieht einen zugleich moralischen wie auch realistischen Standpunkt zur Frage der Sexualität und der Beziehung zwischen Männern und Frauen.

Der Islam begünstigt eine neurotische Haltung zur Sexualität und ist frauenfeindlich.

BefürworterInnen der „islamischen Sexualität“ führen eine Reihe von Argumenten an. Es stimmt zwar, sagen sie, dass ein Mann im Islam vier Frauen haben kann. Das war aber eher eine soziale Maßnahme – die kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit der Verbreitung des Islam einhergingen, schufen eine Reihe von Witwen – Polygamie war nur eine Methode, um diese Frauen zu „entsorgen“.
Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Es erklärt nicht die vielen zusätzlichen sexuellen Begünstigungen, die islamischen Männern zustanden: z.B. das Recht, sich an weiblichen Kriegsgefangenen zu vergreifen. Diese galten als „Beute“. Auch Sklavinnen gegenüber hatte der islamische Mann einen offiziellen Freibrief. Koranische Passagen verbieten einem Mann z.B., Beziehungen mit einer verheirateten Frau zu haben, „außer mit Kriegsgefangenen“ – deren Ehen durften gegen ihren Willen aufgehoben werden, falls ihr neuer Eigentümer sie für sich selbst haben wollte. Eine andere Stelle verspricht dem Propheten den Genuss seiner gesetzlichen Ehefrauen und „jener Gefangener, die du als Beute genommen hast“.
Solche Passagen, gekoppelt mit der späteren weitaus opulenteren Polygamie islamischer Herrscher, deren Harems Tausende von Frauen umfassen konnten, brachten dem Islam unter Orientologen sowie in der öffentlichen westlichen Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert den Ruf ein, den sinnlichen Genüssen sehr zugetan zu sein.
Manchmal halten AutorInnen dem frühen Islam zugute, dass er zumindest eine halbwegs offene Einstellung zur weiblichen Sexualität besaß – zumindest im Vergleich mit dem viktorianischen England, das Frauen jegliche sexuelle Empfindung absprach, oder jenen Teilen Afrikas und Nordafrikas, die durch genitale Verstümmelung ihrer Mädchen sicherstellen, dass solche sexuellen Empfindungen physiologisch und psychologisch nicht mehr möglich sind. Tatsächlich ging der ursprüngliche Islam davon aus, dass Frauen sexuell interessiert und reaktionsfähig sind und dass sie ein Recht darauf haben, ihre Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Der polygame Ehemann hatte in der Theorie die Pflicht, nicht nur den materiellen Unterhalt und die Geschenke und die Unterkünfte seiner Frauen, sondern auch die sexuellen Zuwendungen, die er ihnen zukommen ließ, gerecht aufzuteilen, und zwar mit buchhalterischer Genauigkeit.

Auf fundamentalistischen Webseiten finden wir auch heute noch die Klage von Frauen, ihr Mann sei ihnen so und so viele Nächte schuldig, weil er sie illegitimerweise mit der Zweitfrau verbringe. Der Rechtsberater, an den sie sich wenden – meist ein Mullah – gibt diesen Frauen im Prinzip dann stets recht, obwohl er manchmal dazu rät, den reumütig zurückkehrenden Mann dann aber nicht zum „Abarbeiten“ seiner Schuld zu zwingen.
Die „hadith“ oder überlieferten Aussagen des Propheten enthalten eine erstaunliche Fülle an sexuellen Ratschlägen. Einer Frau empfahl Mohammed, ihren Mann zu betören, indem sie sich an den entsprechenden Körperstellen mit Moschus einreiben sollte. Dieses hadith ist witzig, denn die Frau war offenbar nicht sehr schnell von Begriff, und kapierte nicht, welche Körperstellen der Prophet meinte, er aber war dann doch zu gehemmt, um es deutlicher auszusprechen, und so ging der Dialog eine Weile peinlich hin und her, bis es Mohammeds Frau Aisha schließlich zu dumm wurde, und sie die Dame zur Seite zog, um sie aufzuklären. Andere hadith empfehlen Männern, ihre Frauen nicht zu schlagen „wie man einen Diener schlägt“, denn später werden sie vielleicht mit ihnen schlafen wollen – und dann wird die Stimmung schlecht sein. Längere Überlegungen widmete man auch der Frage, wie lang man einer verheirateten Frau zumuten könne, abstinent bleiben zu müssen – man kam auf drei Wochen.

Die Theorie eines neurotischen Islam kann ebenfalls Beweise vorlegen. Der eindrucksvollste Beleg ist dann gegeben, wenn wir uns Länder ansehen, die nach explizit islamischen Prinzipien regiert werden: Afghanistan unter den Taliban und Iran unter den Ayatollahs. Die Taliban waren, unter ihrer puritanischen Fassade, von Sex besessen. Jedes noch so harmlose Alltagsdetail besaß in ihrer Sichtweise die Macht, einen Mann zur Sünde zu treiben, und die einzige Sicherheit lag im rigorosen Verbot jeglicher Lebensfreude und in der Verbannung alles Weiblichen. Sogar der „Garten der Frauen“ in Kabul durfte nicht mehr so heißen, denn wer das Wort Frau in den Mund nahm, näherte sich bereits der Verführung und dem Höllenfeuer.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Taliban nicht typisch und nicht wirklich islamisch waren, sondern eher als eine fanatische Sekte einzustufen sind, dann bleibt immer noch der Iran. Als eine hochrangige islamische Delegation im letzten Jahr Spanien besuchte, galt die größte Sorge ihrer vorausreisenden Protokollchefs, dass spanische Politikerinnen ganz bestimmt nicht versuchen sollten, ihren iranischen diplomatischen Kollegen die Hand zu schütteln. Für Fundamentalisten ist das eine sexuelle Berührung, dazu angetan, sündhafte Gelüste zu wecken.
Eine typische aktuelle fundamentalistische Webseite gibt in ihren „pädagogischen Hinweisen“ so etwas wie eine praktische Anleitung zur Neurose. Der gute islamische Mensch ist laut dieser Webseite „verschämter als eine Jungfrau, die sich in ihrer Kammer versteckt. Wenn wir diese Art von Schüchternheit möglichst jung in unsere Kinder einpflanzen dann werden sie sich, inschallah, in Anwesenheit des anderen Geschlechts gehemmt fühlen und sich daher nicht unpassend benehmen“.
Heute profiliert sich der Islam als eine moralische Weltanschauung gegenüber dem dekadenten und verkommenen Westen. Was der Fundamentalismus jedoch unter Tugend versteht, ist in Wirklichkeit eine Furcht vor der Sexualität, insbesondere der weiblichen Sexualität.

www.frauen-ohne-grenzen.org

Cheryl Benard und Edit Schlaffer, bekannt für feministische Literatur, leiten seit elf Jahren die Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen in Wien. Vor ca. einem Jahr gründeten sie die Organisation „Frauen ohne Gre

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