Immer mehr Ägypterinnen verschleiern ihr Gesicht. Sie stoßen bei vielen im Land auf Ablehnung und lösen eine – oft emotionale – Debatte aus: über Religion, Geschlechterbeziehungen und das Ägypten unter dem Muslimbruder Mohammed Mursi.
"Mein Gott befiehlt mir die Verhüllung!“, ruft die 15-jährige Heba unter ihrem Gesichtsschleier hervor. Sie nimmt an einer Demonstration teil, bei der gegen den sogenannten Mohammed-Film und gegen das Verbot des Gesichtsschleiers (Niqab) protestiert wird. Abdelmooti Bayumi, ein Angehöriger einer wichtigen islamischen Forschungseinrichtung der islamischen Azhar-Universität, sagt: „Vom Niqab ist im Koran nicht die Rede.“ Das findet eine ganze Reihe von islamischen Scheichs: Sie streiten ab, dass Gott den Niqab gewollt habe. In der islamischen Welt ist man nicht prinzipiell für den Gesichtschleier. In vielen islamischen Ländern ist der Gesichtsschleier verboten oder zumindest umstritten.
Bei einem großen Teil der ÄgypterInnen ist eine starke Abneigung gegen den Niqab zu spüren. In der U-Bahn schlägt den Gesichtsverschleierten (Munaqabat) regelrechter Hass entgegen. Erst seit der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum Präsidenten Ägyptens sind sie selbstbewusster geworden. Die Muslimbruderschaft tritt nämlich für Religionsfreiheit und die freiwillige Verhüllung des Gesichts ein. Häufig geschieht es, dass eine Munaqaba in der U-Bahn auf ihrem Handy geräuschvoll den Koran hört oder sich mit belehrenden Worten an die Frauen wendet. „Wir wissen, wie man betet. Wir brauchen diese Unterweisung nicht“, meint jedoch – stellvertretend für viele – Nora Ramadan. Sie nimmt als Hausmädchen täglich die U-Bahn und behauptet, dass die Gesichtsverschleierten immer selbstherrlicher würden. In Ägypten nähme man jedoch Instruktionen nicht von den eigenmächtigen Gesichtsverschleierten, sondern höchsten von TV-Predigern oder in der Moschee unterrichtenden Scheichs an.
Der Gesichtsschleier soll aus Saudi-Arabien kommen. Ägyptische Gastarbeiter, die sich dort in großer Zahl bis zu den 1990er Jahren aufhielten, brachten ihn angeblich an den Nil. „Der Niqab spiegelt eine vorislamische arabische Sitte wider“, meint die Islamwissenschaftlerin Suad Saleh. Beduinen hätten damit ihre Frauen vor Sonne schützen wollen. Andere Gelehrte bestreiten diesen Ursprung. Laut Saleh geht es beim Niqab um die Verhüllung der ganzen Frau, um ihre sexuelle Anziehungskraft zu mindern. Das sei auch bei den erfinderischen Beduinen der Fall gewesen. Saleh wünscht sich hingegen eine Auslegung des Koran, die auch Männer in die Schranken weist.
Einige Ägypterinnen verhüllen sogar ihre Augen, denn auch die gelten als erotisch. Doch in Ägypten haben Frauen längst Straßen und Arbeitsplätze betreten. Das öffentliche Leben ohne sie ist undenkbar. Zur Verhüllung sind einige allerdings bereit.
Mariam Karim meint, sie würde den Niqab für ihren Mann anlegen: „Ich unterstütze meinen Mann finanziell und verkaufe Tücher.“ Er habe gesagt, dass sie das dürfe, aber nur unter dem Niqab. Sie habe ihm zugestimmt, da er den Islam kenne.
Deutlicher wird die 20-jährige Studentin Rana Mustafa. Sie erzählt, dass sie früher nur den Kopfschleier getragen habe: „Als die Anmache dann überhand nahm, bedeckte ich auch mein Gesicht. Doch heute werden alle Frauen, egal ob sie verschleiert sind oder nicht, belästigt.“ Sexuelle Annäherungsversuche durch Männer seien in der gesamten arabischen Welt im Zunehmen begriffen, meint Rana Mustafa, da Männer Frauen als Menschen einfach nicht respektieren würden. „Sie nehmen Frauen nur als Körper und als mögliche Lustobjekte wahr“. Es müsse eine echte Frauenbefreiung in der arabischen Welt geben, sagt Mustafa.
Der muslimische Seelsorger Sherif Abdelmajid findet den Niqab einfach nur falsch: „Wie soll eine Gesellschaft funktionieren, wenn ihre eine Hälfte das Gesicht verbirgt?“ Abdelmajid fügt noch an, dass Frauen zum Beten und bei ihrer Pilgerfahrt nach Mekka den Gesichtsschleier abnehmen müssten. Für ihn sei das ein schlagender Beweis, dass der Niqab nur traditionell üblich sei und mit dem Islam nichts zu tun habe.
Kristina Bergmann lebt in Kairo und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung.
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