Eigentlich wollte die Regierung in Bangladesch aktiv gegen Gewalt an Frauen werden. Dann kam die Pandemie – und die Situation verschlimmerte sich. Doch in der jungen Generation macht sich Widerstand breit.
„Wir haben gegen den Willen unserer Eltern geheiratet,“ erklärt eine junge Frau am Strand der bengalischen Küstenstadt Cox’s Bazar. Zusammen mit ihrem Mann ist sie an diesem Abend zum Spazieren gekommen. „In Bangladesch bedeutet die Ehe Sicherheit für die Familie. Doch nicht immer für diejenigen, die heiraten“, sagt sie.
Der Großteil der Ehen in Bangladesch wird nach wie vor arrangiert, das Mitgiftsystem spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Weg der zwei Verliebten am Strand bleibt die Ausnahme.
Das Paar lernte sich vor zwei Monaten an der Universität in Cox‘s Bazar kennen. Im Mathematikstudium. „Es ist ein komisches Gefühl, sich zu verlieben“, so der Mann, der wie seine Frau lieber anonym bleiben will, „ich bin erst einmal erschrocken, weil ich wusste, dass es nicht einfach wird, meine Familie zu überzeugen, eine Person zu heiraten, deren Eltern sie nicht kennt.“
Zwischen Stadt und Land. Eine Autostunde vom Touristenort Cox‘s Bazar entfernt, in einem Dorf scheint diese freie Entscheidung zur Ehe weit weg. Rena Katun, deren echter Name aus Schutzgründen nicht genannt werden kann, sitzt mit etwa einem Dutzend anderen Mädchen in einem Kreis im Gemeindezentrum des Dorfes. „Ich will wissen, wie wir es schaffen können, erst nach der Schule zu heiraten,“ sagt sie und steht aus ihrem Schneidersitz auf. Es ist das erste Mal, dass sie bei dem Workshop für Mädchen der internationalen Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) teilnimmt.
Das Gemeindezentrum ist eine Holzhütte in der Mitte des Dorfes. Daneben laufen Hühner, das Heu trocknet in der Sonne.Es ist eine der ärmsten Gemeinden in der Region. Während der coronabedingten Ausgangssperre im Frühling 2021 blieben die meisten Schulen in der Umgebung geschlossen. Die Dorfbewohner*innen waren von dem Rest der Bevölkerung abgeriegelt.
Die Abwärtsspirale der Mitgift. Die Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Das durchschnittliche Heiratsalter der Mädchen im Dorf liegt laut dem IRC zwischen vierzehn und siebzehn Jahren. In der Pandemie hat sich die Zahl der Kinderehen wieder erhöht. „Für viele Männer, die während der Pandemie ihren Job verloren haben, ist die Mitgift die einzige Einnahmequelle,“ erläutert Rozana Majumdar, Projektkoordinatorin des IRC. Doch die ärmeren Familien im Land leiden unter dem Mitgift-System, da sie ihren Töchtern das geforderte Geld oft nicht mitgeben können.
Hasna Rina sitzt in ihrem kleinen Büro im Dorfzentrum. „Gestern kam ein Mädchen aus dem Dorf hierher und sagte mir aufgelöst, sie müsse die Schule umgehend verlassen und heiraten. Ihre Familie könne nicht mehr alle Kinder durch die nächste Saison bringen. Ihr Vater war erblindet“, erzählt Rina. „Dabei kommen die Mädchen in meist noch ärmere Zustände, wenn die Eltern nicht genug Geld für die Mitgift haben.“
Seit einem Jahr arbeitet Rina als Sozialarbeiterin im IRC-Projekt. Sie selbst ist in der Gegend aufgewachsen und kennt die Sorgen und Probleme der jungen Frauen, die sich an sie wenden. Und auch die der Eltern: „Ich lade sie ein und spreche mit ihnen über die Wichtigkeit der Schulbildung.“ Oft seien die Eltern dankbar, wenn sie Alternativen zur arrangierten Ehe aufgezeigt bekommen.
Sieben von zehn Frauen missbraucht. Laut einer Umfrage des Statistischen Amts von Bangladesch und des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015 waren über 70 Prozent der verheirateten Frauen und Mädchen in Bangladesch in einer Form von Missbrauch durch ihren Partner konfrontiert. Während der Pandemie hat sich diese Entwicklung laut Berichten der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und dem IRC noch weiter zugespitzt. Die örtliche Menschenrechtsorganisation BRAC dokumentierte einen fast 70-prozentigen Anstieg der gemeldeten Vorfälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen im März und April 2020 im Vergleich zum Vorjahr.
Dabei hatte die Regierung 2016 in einem landesweiten Vierjahresprogramm der geschlechterspezifischen Gewalt den Kampf angesagt. Zudem sollten mehr Führungspositionen in der Regierung von Frauen besetzt werden.
Immerhin ist die Regierungschefin weiblich: seit 2009 heißt die Sheikh Hasina. „Das hat Vorbildfunktion,“ sagt IRC-Projektkoordinatorin Majumda. „Dennoch sind Frauen und Mädchen weiterhin schwerer geschlechterspezifischer Diskriminierung und Missbrauch ausgesetzt.“
Gewalt wird selten geahndet. Eines der Hauptprobleme: Frauen wenden sich kaum an die Polizei, weil sie sich dort nicht ernstgenommen und sicher fühlen. Laut Human Rights Watch verschleppen Gerichte zudem immer wieder Verfahren – oder lassen sie gar nicht erst aufkommen.
Während der Ausgangssperre hatte sich dies noch einmal verstärkt: „Die Frauen und Mädchen konnten niemanden außerhalb ihrer Familie erreichen, da alles geschlossen war“, betont Majumda. „Die Depressionen und Unsicherheit vieler Männer nahmen zu, nachdem sie ihren Job verloren. Die Berichte häuslicher Gewalt steigerten sich,“ so die Projektkoordinatorin des IRC.
Über ihre Erfahrungen sprechen die Mädchen im Projekt im Dorf von nun an jede Woche. In den Seminaren sollen sie sich nicht nur durch die Gemeinschaft gestärkt fühlen, sondern auch den Mut entwickeln, mit ihrer Familie über Gewalterfahrungen zu sprechen. „Ich will einmal eine gute Mutter sein,“ sagt eines der Mädchen auf die Frage, was sie sich für die Zukunft wünscht. „Das bedeutet, die eigenen Kinder frei leben zu lassen – und nicht für einen selbst.“
Franziska Grillmeier ist als freie Journalistin momentan vor allem in den Grenzregionen rund um Europa und Südasien unterwegs. Sie lebt auf der Insel Lesbos, in Griechenland.
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