Schadschöpfung statt Wertschöpfung

Von Hans Holzinger · ·

Wie wird Wirtschaft definiert und gemessen? Ein Kommentar zu neuen Denksystemen und Begrifflichkeiten für ein gutes Leben für alle.

Wertschöpfung, also die in einzelnen Wirtschaftsbereichen erbrachte wirtschaftliche Leistung, gilt als Schlüsselbegriff aller Wirtschaftsprognosen. Wächst die Wertschöpfung oder schrumpft sie? Um wie viel? Wie hoch ist sie im Ländervergleich? Und wie steht es um die globale Entwicklung der Wertschöpfung?

So zentrale Fragen. Gemessen wird Wertschöpfung aber durch eine einzige Zahl: das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP.

Erfunden von dem Ökonomen Simon Kuznets im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, legte das BIP eine steile Karriere hin. Es wurde zum Gradmesser für den Erfolg von Volkswirtschaften schlechthin, auch wenn der Erfinder betonte, dass das BIP kein Maß für die Messung von Wohlstand sei. Zusammengezählt wird alles, was in einer Messperiode in Geldwerten umgesetzt wurde.  

Was sagt das BIP (nicht) aus?
Von Robert F. Kennedy, US-Politiker und jüngerer Bruder von John F. Kennedy, ist der Satz überliefert: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles – außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Wo liegen nun die Mängel dieser Zauberzahl?

Erstens: Das BIP sagt nichts aus über die Verteilung des Erwirtschafteten. Ein Land kann ein hohes durchschnittliches BIP pro Kopf haben, wenn viele wenig Einkommen beziehen und wenige sehr viel. Dem Wirtschaftsanthropologen Jason Hickel zufolge ging fast die Hälfte des weltweiten Wirtschaftsprodukts in den vergangenen Jahren an die reichsten fünf Prozent der Weltbevölkerung. Ein großer Teil an Arbeit, Ressourcen und Energie wird aufgewendet, um die Taschen der Begüterten weiter zu füllen.

Hinter dem Schleier abstrakter Zahlen
Zweitens: Das BIP liefert auch keine Aussagen darüber, was an Gütern produziert wird und für wen. Leistbare Wohnungen, gesunde Nahrungsmittel und gute Schulen für alle oder teure SUVs für die Reichen? Verborgen hinter dem Schleier der abstrakten Zahlen bleibt, wer unter welchen Bedingungen für das BIP geschuftet hat.

Wir betreiben eine Ökonomie für die Satten und bräuchten eine für die Hungernden, so der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček. Über 700 Mrd. US-Dollar werden jährlich für Werbung ausgegeben, um uns in den Wohlstandszonen neue Produkte anzupreisen. Auch das erhöht das BIP. Wer hungert, braucht keine Werbung, sondern etwas zu essen.

Das drastischste Beispiel für wertlose, ja zerstörerische Güter sind wohl Waffen. Über zwei Billionen Dollar werden laut Friedensforschungsinstitut SIPRI weltweit aktuell im Jahr für Militär und Rüstung ausgegeben – der Löwenanteil davon von den NATO-Mitgliedsstaaten.

Nicht alles eingerechnet
In der Nachhaltigkeitsforschung wird drittens seit langem auf die sogenannten Negativkosten hingewiesen. Umweltschäden oder Zivilisationskrankheiten z. B. erhöhen das BIP, weil ihre Folgen Kosten verursachen: z. B. das Aufräumen nach Hochwassern, die Behandlung vermeidbarer Krankheiten. Für die Gesellschaft und Wirtschaft wichtige, jedoch nicht bezahlte Leistungen wie Kindererziehung, private Betreuung älterer Menschen und gemeinschaftliches Engagement werden wiederum nicht im BIP erfasst.

Würden alle nicht bezahlten Tätigkeiten in Österreich in das BIP eingerechnet, wäre dies um ein Drittel höher, rechnet die feministische Ökonomin Bettina Haidinger vor.

Nicht berücksichtigt werden in der herkömmlichen Wirtschaftsrechnung auch die externalisierten ökologischen Kosten, der Verlust an „Naturkapital“ oder die Schäden, die durch die Erderhitzung in Zukunft drohen.

Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel stellt der Wertschöpfung daher die Schadschöpfung gegenüber und meint, dass die Verzichtsdebatte in die Irre führe: Verzichten könne man nur auf etwas, dass einem zusteht. Der Zugriff auf die Naturressourcen steht uns in den Hochkonsumländern nicht zu. Schadschöpfung liegt in meinen Augen auch vor, wenn Menschen am anderen Ende der Lieferkette keine ausreichenden Löhne erhalten und unter gesundheitsschädlichen Bedingungen arbeiten müssen, wenn Dinge produziert werden, die wir nicht wirklich brauchen; wenn Tonnen an Werbeprospekten gedruckt werden.

Neue Indikatoren gefragt
Sprache kann Wirklichkeiten verzerren und blinde Flecken unentdeckt lassen. Ein neues Wahrnehmen erfordert daher auch neue Begriffe und Messzahlen.

Wir brauchen neue Indikatoren für Wohlstand, die tatsächlich die Lebensqualität messen. Eine ausgezeichnete Buchhaltung über eine Ökonomie, die dem Wohlbefinden dient, bietet die Donut-Ökonomie der britischen Ökonomin Kate Raworth. Sie verbindet die ökosystemischen Grenzen mit den Grundbedürfnissen für ein gutes Leben für alle.

Beides in Einklang miteinander zu bringen, darin liegt die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen dafür die Transformation aller Lebensbereiche und jene unserer Denksysteme inklusive neuer Begrifflichkeiten.

Hans Holzinger ist Wirtschafts- und Sozialgeograph und war dreißig Jahre lang in der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen u. a. für die Bereiche Nachhaltigkeit und neue Wohlstandsmodelle tätig. Nun ist er Senior Adviser der in Salzburg beheimateten Denkfabrik für neue Zukunftslösungen. Publikationen „Von nichts zu viel – für alle genug“, „Wie wirtschaften?“, „Post-Corona-Gesellschaft“ u. a. www.jungk-bibliothek.org, www.hans-holzinger.org

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