Wie der Jemen zu einem Krisenherd mit wenig Perspektiven wurde, erklärt die Wissenschaftlerin Marie-Christine Heinze im Gespräch mit Richard Solder.
Jemen steht medial im Schatten des Konfliktes in Syrien, doch die Lage im Land ist laut Marie-Christine Heinze dramatisch. Zudem habe der Krieg Auswirkungen weit über die Grenzen der Arabischen Halbinsel hinweg. Die Jemen-Expertin betont im Gespräch mit dem Südwind-Magazin, dass das Land im Süden der Arabischen Halbinsel vor gewaltigen Herausforderungen steht: „Und das bei einem Staat, der davor schon am Boden lag“, so Heinze.
Die Jemen-Expertin sieht es als realistisches Szenario, dass das Land wieder auseinanderbricht. Jemen wurde erst 1990 aus zwei Staaten gebildet. In den 1990er Jahren, vor bzw. nach dem Bürgerkrieg 1994, sei Jemen noch relativ stabil gewesen. Doch besonders seit 2004 kam es zu mehreren Konflikten und Kriegen.
Islamistische Gruppierungen wie Al-Kaida und der so genannte Islamische Staat könnten zudem im Südteil erstarken. Ob der Krieg beendet werden könne, hänge dabei nicht zuletzt von regionalen Akteuren ab, allen voran von Saudi-Arabien.
Gescheiterter Wandel. „Der aktuelle Konflikt ist das Resultat eines gescheiterten Transitionsprozesses, der nach dem Arabischen Frühling begann“, erläutert Heinze. 2011 musste Präsident Ali Abdullah Salih nach Protesten abdanken. Er hatte das Land seit 1990 autoritär regiert. Eine neue Verfassung und Wahlen sollten folgen, Reformen durchgeführt werden. Abd Rabbo Mansur Hadi, wie Salih ein Mann der Partei Allgemeiner Volkskongress, übernahm das Ruder. Doch das Vertrauen in Salihs Nachfolger ging rasch verloren, so Heinze. Der alte Machtapparat kontrollierte weiterhin das von Armut geprägte Land. Akteure wie die schiitischen Huthi-Rebellen und die „Südliche Bewegung“ erhielten mehr und mehr Zulauf. Ein nationaler Dialog scheiterte und die wirtschaftliche Situation der Menschen verschlechterte sich immer weiter.
Die Huthis kooperieren seit 2014 mit Salih. Die Allianz griff zu den Waffen und war bald auf dem Vormarsch, seit September 2014 kontrollieren sie die Hauptstadt Sanaa. Die international weiterhin anerkannte Regierung trat Anfang 2015 zurück und floh ins Exil.
Jemen
Hauptstadt: Sanaa
Fläche: 528.000 km² (mehr als sechsmal so groß wie Österreich)
EinwohnerInnen: 26 Mio. (2015)
Bevölkerung: Arabisch, Minderheiten mit europäischem bzw. afrikanischem Ursprung. Etwa ein Prozent pakistanische oder indisch-muslimische ArbeitsmigrantInnen.
Human Development Index (HDI): Rang 160 von 188 (UNDP-Bericht 2015).
BIP pro Kopf: 3.861 Dollar (kaufkraftbereinigt, IWF 2014)
Junger Staat
Lange gab es zwei Jemen, die Jemenitische Arabische Republik (Nordjemen) sowie die Demokratische Volksrepublik Jemen (Südjemen). 1839 wurde die südliche Region um Aden von den Briten besetzt. Nach der Unabhängigkeit 1967 entstand hier eine sozialistische Volksrepublik. Unter der Jemenitischen Sozialistischen Partei (YSP) wurde die Macht der Stämme zurückgedrängt.
Der Nordjemen war lange von den Osmanen besetzt, ab 1911 (de facto) bzw. 1918 als Königreich Jemen eigenständig. 1962 wurde die Jemenitische Arabische Republik ausgerufen. Bis 1990 regierte im Nordjemen die Einheitspartei Allgemeiner Volkskongress (GPC).
Es gab immer wieder Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Staaten sowie auf beiden Seiten politische Unruhen. Am 22. Mai 1990 schlossen sie sich zur Republik zusammen. 1994 kam es im vereinten Jemen zum Bürgerkrieg, den der Norden für sich entscheiden konnte. sol
„Im März 2015 eskalierte der politische Prozess, der schon länger von Gewalt begleitet wurde, zu einem Krieg mit regionaler Beteiligung“, erläutert Heinze. „Verschiedene Gruppen kämpfen seither um die Macht.“ Und um die Ressourcen – die wenigen Ressourcen, wie die Jemen-Expertin betont: „Es gibt nicht viel zu verteilen.“
„Als die Huthis Sanaa einnahmen, war das für Saudi-Arabien ein Warnsignal.“ Denn die Saudis sahen eine schiitische Bedrohung an ihrer Südflanke. Ende März 2015 startete die Militärintervention der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition, der die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, Jordanien, Marokko, Sudan und Senegal angehören und die von den USA, Frankreich und Großbritannien logistisch unterstützt wird.
Ein mächtiger Nachbar. Saudische Einmischung im Jemen ist allerdings nichts Neues, so Heinze: „Saudi-Arabien betrachtet den Jemen als seinen Hinterhof, war hier immer aktiv und unglaublich einflussreich.“ Jemen liegt an einem strategisch wichtigen Punkt zwischen dem Roten Meer und dem Golf von Aden. Die Meeresenge „Tor der Tränen“ ist für den Schiffverkehr bedeutend.
Im Unterschied zur absolutistischen Monarchie in Saudi-Arabien besteht im Jemen eine Republik. „Saudi-Arabien will seit jeher keine erfolgreiche Demokratie, die das vorherrschende Modell der Monarchie auf der Halbinsel in Frage stellt. Daher haben die Saudis verschiedene Akteure gefördert, um auf der einen Seite zu verhindern, dass der Jemen zu sehr im Chaos versinkt. Aber auch, dass er zu stabil wird.“
Der mächtige Nachbar hat zudem laut Heinze viel damit zu tun, dass im Jemen Schiiten gegen Sunniten kämpfen. „Die Saudis haben ihre wahhabitische Ideologie in den Jemen hineintransportiert.“ Erst durch das Fußfassen dieses fundamentalistischen Religionsverständnisses sei es zu konfessionellen Konflikten gekommen. Heinze: „Schiiten wie Sunniten hatten früher nie eigene Moscheen, es wurde gemeinsam gebetet, untereinander geheiratet.“
Marginalisiert. Jemen ist 26 Jahre nach der Vereinigung ein gespaltenes Land. Der Krieg ist laut Heinze nicht zuletzt ein Kampf um Mitbestimmung im Einheitsstaat: „Es gibt Akteure, die darum kämpfen, zum ersten Mal beteiligt zu werden, nachdem sie über Jahrzehnte marginalisiert wurden.“
Die Huthi-Bewegung etwa entstand im Norden als Reaktion auf wirtschaftliche und kulturell-religiöse Ausgrenzung. Mit Hilfe von Saudi-Arabien wurde die Region, die eine jahrhundertealte schiitische Tradition besitzt, von der Regierung laut Heinze an den Rand gedrängt.
Auch im Süden und Osten des Landes entwickelte sich eine Protest-Bewegung, die „Südliche Bewegung“. Diese wehrte sich wiederum dagegen, dass die Menschen aus dem südlichen Teil des Landes nie angemessen im politischen Machtzentrum in Sanaa repräsentiert waren. „Der Süden wurde bei der Vergabe von Posten nie berücksichtigt“, betont Heinze.
Zudem wurden SüdjemenitInnen nie in die Sicherheitskräfte integriert. Die Bewegung habe ihre Ziele lange mit friedlichen Mitteln verfolgt – sie wollte ein Ende der Marginalisierung des Südens, die Bekämpfung der Korruption und mehr Rechtsstaatlichkeit.
„Als Präsident Salih gewaltsam gegen die Bewegung vorging, wurden ihre Forderungen extremer. Seit 2009 fordert die Südliche Bewegung die Abspaltung vom Norden des Landes.“
Gefahr Islamisten. Heinze warnt, dass Islamisten von einem instabilen Jemen profitieren. Weite Teile des Südens sind Gebiete der „Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP). „Menschen geben Al-Kaida-Mitgliedern dort Unterschlupf, damit sie in Ruhe gelassen werden oder Al-Kaida für sie Probleme löst.“ Lange habe es keinen Kampf gegen fundamentalistische Gruppierungen gegeben. „Die Konfliktlinien waren anders gelagert, für den Südteil des Landes war es vorrangig, die Huthis abzuwehren. Durchaus auch zusammen mit Al-Kaida oder neuerdings mit dem IS.“
Erst seit versucht wird, eine neue Armee aus SüdjemenitInnen aufzubauen, habe sich das geändert. Mittlerweile werde AQAP immer wieder aufgefordert, Gebiete aufzugeben – wie im Fall der wichtigen Hafenstadt Mukalla. „Es ist allerdings die Frage, wie lange sich Al-Kaida das gefallen lässt.“ Die Terrororganisation verhalte sich bisher im Jemen „vergleichsweise zivilisiert“. Würde sie zunehmend ins Eck gedrängt und die Konkurrenz durch den radikaleren IS stärker werden, könne es sein, dass sich AQAP bald nicht mehr friedlich zurückziehe.
Wieviel Einfluss der IS im Land hat, ist Heinze zu Folge unklar, doch das Potenzial sei begrenzt. „Sollte der Kampf gegen den IS in Syrien und Irak erfolgreich sein, wird wohl eher Libyen als der Jemen zum Rückzugsgebiet.“
Wenig Hoffnung. Die seit Mitte April stattfindenden Friedensverhandlungen zwischen Rebellen und Exil-Regierung könnten letzten Endes erfolgreich verlaufen, dennoch wäre dies nicht gleichbedeutend mit Frieden. „Man müsste damit rechnen, dass der Jemen über fünf bis zehn Jahre sehr instabil bleibt.“ Zu viele AkteurInnen und Interessen seien mittlerweile involviert, bis hin zur lokalen Ebene. „Zudem ist praktisch die gesamte Infrastruktur vor allem durch saudische Bomben zerstört worden. Es ist eine Tragödie.“
In den 1990er Jahren hätten die Perspektiven noch anders ausgesehen: „Es hatte sich gerade eine Tourismusindustrie entwickelt. Das Land ist faszinierend und es war damals toll zu bereisen.“
Marie-Christine Heinze ist Islamwissenschaftlerin und Vorstandsvorsitzende von CARPO, einem Zentrum für angewandte Orientforschung mit Sitz in Bonn. Heinze leitet u.a. ein akademisches Austauschprojekt mit der Universität Sanaa zu Peace-Building und State-Building in Jemen an der Universität Bonn.
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