Zwölf Millionen Menschen wurden im November vergangenen Jahres im indischen Bundesstaat Orissa nach einem verheerenden Zyklon obdachlos. Ariane Bauernfeind, Leiterin des
An einem Donnerstagabend erreichte mich die Nachricht, am Samstag saß ich dann schon im Flugzeug. Ich war gerade in der MSF-Zentrale in Madrid, um Spanisch zu lernen, als ich angerufen und mir das Angebot gemacht wurde, nach Indien zu fahren und als erste Österreicherin einen Katastropheneinsatz zu leiten.
Ich bin seit vier Jahren für „Ärzte ohne Grenzen“ im Einsatz. Oft wird mir und meinen Kollegen die Frage gestellt, warum wir bei MSF mitarbeiten. Beweggründe gibts viele. Mich reizt vor allem die Auslandserfahrung und der intensive Kontakt zur lokalen Bevölkerung.
Das Team von „Ärzte ohne Grenzen“ setzte sich diesmal aus sechs Personen zusammen: Krankenschwestern, Logistiker und Wasserspezialisten. „Angesichts der Größe des betroffenen Gebietes fühlten wir uns klein wie Ameisen“, erinnert sich die spanische Krankenschwester Ester Bajo. Wohin zuerst? Wo ist noch keine Hilfe angelaufen? Welche Gebiete sind noch von der Außenwelt abgeschnitten?
Die Solidarität in Indien ist groß. Helfer aus anderen Bundesstaaten treffen ein. Die internationale Hilfe ist jedoch mager. Kaum jemand in Europa verfolgt die Tragödie, obwohl 12 Millionen Menschen über Nacht obdachlos wurden. Die Schlagzeilen der heimischen Presse handeln von anderen Ereignissen, die offenbar wichtiger sind als rund 10.000 Tote in Indien.
Nach einer Erkundungsmission entscheiden die „Ärzte ohne Grenzen“, im Bezirk Jagatsinghpur mit ihrer Arbeit zu beginnen. Je weiter man sich von der Hauptstadt und ihren Betonbauten entfernt, umso trister wird es. Vereinzelt stehen noch Ziegelbauten. Die meisten Dörfer bestanden aber aus Lehm- und Bambushütten. Davon ist nichts übriggeblieben. Der Reis sollte in zwei Wochen geerntet werden. Die Felder wurden vom Sturm zerstört. In manchen Gebieten liegt der Wasserspiegel bei vier Metern. Umringt von Wasser warten die Überlebenden auf Hilfe. Für im Katastrophengebiet Ankommende bleibt es unerklärlich, wie man auf Bäumen, von toten Menschen und Tieren umgeben, tagelang überleben kann. Der Gestank der Verwesung setzt sich in den Nasenschleimhäuten fest. Der Anblick der auf Hilfe wartenden Menschen ist erschütternd.
Sie sitzen auf Bäumen oder auf einem Haufen Lehm. Das ist alles, was ihnen geblieben ist. Die Überlebenden versuchen, ihre Habseligkeiten zu trocknen und ihre Hütten neu aufzubauen. Trotz der entmutigenden Situation macht sich Hoffnung breit. Die Opfer bedanken sich, dass „Ärzte ohne Grenzen“ so weit gereist sind, um ihnen zu helfen. Das Team ist nicht alleine. Hunderte Menschen aus angrenzenden Regionen wurden mobilisiert.
Vor Ankunft von MSF haben die Menschen von Orissa verseuchtes Wasser getrunken und neben ihren Toten geschlafen. Wie durch ein Wunder ist noch keine Epidemie ausgebrochen.
Anfangs konzentriert sich das Einsatzteam von „Ärzte ohne Grenzen“ auf die Erstversorgung in den entlegenen Dörfern und auf die Verhinderung von Epidemien. Das beginnt bei der Verteilung von Plastikplanen, Kanistern, Chlortabletten und Seife. Eines der wichtigsten Dinge ist, die Versorgung mit sauberem Wasser sicherzustellen. Der richtige Umgang mit Medikamenten und Hilfsmitteln wird erklärt.
Parallel dazu wird ein Frühwarnsystem aufgebaut, um infektiösen Erkrankungen wie Cholera, Ruhr und Masern vorzubeugen. Die Anwesenheit von „Ärzte ohne Grenzen“ stellt auch sicher, dass staatliche Hilfsgüter die Betroffenen vor Ort erreichen. Ihre Beobachtungen in den Dörfern werden direkt an die Behörden in der Hauptstadt weitergeleitet. Diese reagieren dann meist prompt und veranlassen den Transport von Hilfsgütern an Ort und Stelle. Oft kommen sie aber nicht an. Dann macht MSF Druck und fragt mehrmals nach, bis die staatlichen Hilfsgüter die Krisenregion dann wirklich erreichen.
INI= Fünf Wochen später: Felder werden bestellt, Schulen geöffnet, Straßen repariert und der öffentliche Verkehr wieder aufgenommen. Das „normale“ Leben kehrt zurück.
Die größte Gefahr ist gebannt. Es ist keine Epidemie ausgebrochen, die Kadaver der 70.000 Rinder und zahlloser anderer Tiere sind verbrannt worden. Indische Organisationen zum Wiederaufbau treffen ein. Die indischen NGOs werden die Arbeit von MSF übernehmen und zwei bis drei Jahre bleiben.
Für die „Ärzte ohne Grenzen“ ist der Zeitpunkt des Sich-zurückziehens gekommen. Ihr Auftrag war klar: anwesend und bereit zu sein, für den Fall eines Ausbruchs von Epidemien. „Unser medizinischer Beitrag war minimal, aber unsere Anwesenheit hat den Ärmsten der Armen Achtung geschenkt“, die bescheidene Bilanz des Teams.
Unter Argusaugen der Inder werden die Zelte abgebrochen und die restlichen MSF-Hilfsgüter an die indischen NGOs übergeben. Beim Schreiben des Abschlussberichtes schaut uns die Dorfbevölkerung über die Schultern, genauso neugierig wie in den vergangenen fünf Wochen. Keine Bewegung des MSF-Teams bleibt unbeobachtet. Die Menschen traten gleich am ersten Tag mit großer Selbstverständlichkeit in das MSF-Zelt ein, setzten sich auf die Betten und blätterten in Büchern und Unterlagen. Jetzt wird das Zelt eingerollt, im Sand verschwindet eine Schlange. Sie ist der erste Gast gewesen und wird sich nun eine neue Bleibe suchen müssen.
In den Krisenherden der Welt
„Ärzte ohne Grenzen“(MSF) erhielten für die „bahnbrechende humanitäre Arbeit auf mehreren Kontinenten“ den Friedensnobelpreis 1999. Die Organisation wurde Anfang der 70er-Jahre in Frankreich gegründet und ist heute die größte private medizinische Nothilfeorganisation der Welt. Derzeit sind in mehr als 80 Ländern der Welt über 2.500 internationale und ca. 15.000 lokale MitarbeiterInnen von MSF fast rund um die Uhr im Einsatz. Die MitarbeiterInnen sind ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, Medizinisch-Technische Angestellte, Hebammen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen, aber auch LogistikerInnen und AdministratorInnen.
Für einen Auslandseinsatz wird ein abgeschlossenes Medizinstudium mit absolviertem Turnus bzw. eine abgeschlossene Berufsausbildung verlangt. Außerdem müssen entsprechende Fremdsprachenkenntnisse mitgebracht werden. Oft sind zusätzlich noch Kurse in Tropenmedizin oder andere Spezialausbildungen erforderlich. Ein Einsatz dauert durchschnittlich 6-9 Monate.
INI=Neben der medizinischen Nothilfe sieht „Ärzte ohne Grenzen“ das so genannte „witnessing“ als zweite Hauptaufgabe. MSF sieht sich selbst als Fürsprecher für Völker in Not. Werden Mitglieder der Organisation Zeugen von schweren Menschenrechtsverletzungen, so versuchen sie auch auf diplomatischer oder juristischer Ebene zu agieren. MSF-Mitglieder machen bei Verstößen gegen die Menschlichkeit auch öfters Zeugenaussagen vor Gericht oder organisieren Pressekonferenzen.
Ein Großteil der über 400 Einsatzprojekte sind Langzeitprojekte, zum Beispiel Tuberkulosebehandlung in Kasachstan, Mutter-Kind-Projekte in Afghanistan oder AIDS-Prävention in Kenia.
Finanziert werden die Einsätze vorwiegend aus privaten Spenden. MSF-Österreich hat einen sehr hohen Spendenzuwachs zu verzeichnen. Waren es 1998 bereits 10 Millionen Schilling im Jahr, so konnte die Organisation den Privatspendenbetrag im Jahr 1999 noch verdreifachen. International liegt das Jahreseinkommen von MSF, das sich großteils aus Privatspenden zusammensetzt, derzeit bei über 4 Milliarden Schilling.
Endmarke
Gabi Faber-Wiener
Nähere Informationen über regelmäßig stattfindende Informationsabende: „Ärzte ohne Grenzen“, Tel.: 01/409 72 76, www.AerzteOhneGrenzen.at
BU: Über die Hälfte der MSF-Projekte sind Langzeitprojekte.
Index: Indien – Gesundheit – Initiative
Ariane Bauernfeind, 32, ist Diplomkrankenschwester aus Wien und seit vier Jahren. für
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