Wenn ich durch die Stadt gehe“, erzählt mir eine Sintiza, „und jemandem aus meiner Gruppe begegne, genügt ein kurzer Blickkontakt in stillem Einverständnis: Ich verrate dich nicht.“ Es sei die Angst um die eigene Familie, die viele Roma und Sinti davon abhalte, sich für ihre Volksgruppe zu engagieren, sagt die Frau.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich eine bestimmte Anzahl von Menschen gezwungen sieht, einen Teil ihrer Identität nicht preiszugeben. Viele dieser Menschen sind Roma und Sinti. Sie wissen, weshalb sie ihr Geheimnis hüten. Sie tragen die Geschichte ihres Volkes in sich, eine Geschichte der Verfolgung und der Ausgrenzung. Es ist uns (noch) nicht gelungen, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass sich alle offen zu ihrer Herkunft bekennen können.
Eine Frau, die aus der Anonymität heraustrat, ist Ceija Stojka, eine der grandes dames der Roma-Szene in Österreich. 1988 erschien ihr erstes Buch „Wir leben im Verborgenen“, das von der Historikerin Karin Berger herausgegeben wurde. Darin beschreibt Ceija Stojka ihre Kindheit in den Konzentrationslagern, aber auch das Leben der Roma nach 1945. Die Publikation dieses Buches markiert den Auftakt der Roma-Bewegung in Österreich. Die Anonymität aufzugeben – dazu gehört großer Mut. Ceija Stojkas literarisches Engagement wirkte für andere inspirierend, und es erschienen mehrere autobiographische Publikationen, die sich sowohl mit dem Genozid als auch mit der heutigen Welt der Roma und Sinti beschäftigen.
Früher war das Singen von Liedern und das Erzählen von Geschichten ein untrennbarer Bestandteil des Alltagslebens. Erwachsene versammelten sich regelmäßig, um Märchen und Geschichten zu hören, das war nicht eine Sache für Kinder (die allerdings dabei sein durften, wenn sie sich ruhig verhielten). Gute MärchenerzählerInnen genossen hohes Ansehen. Dass heute Roma vermehrt Gedichte, Erzählungen, Romane und Theaterstücke schreiben, hängt auch mit dem Verlust der mündlichen Erzähltradition zusammen. Eine Auseinandersetzung mit der Literatur der Roma ist ein faszinierendes Erlebnis, es kann aber auch ein sehr trauriges sein, da ihre Verfolgungsgeschichte eines der dominantesten Themen ist. Eine zentrale Botschaft der Roma-SchriftstellerInnen an die Gad¡ze (die Nicht-Roma) lautet: „Wir sind Menschen so wie ihr.“ Roma „erschreiben“ sich in ihrer Literatur das Mensch-Sein, das ihnen in der außerliterarischen Wirklichkeit so oft abgesprochen wurde und wird.
Roma sind Europäer, die ursprünglich aus Indien stammen, wie Sprachwissenschaftler im 18. Jahrhundert aufgrund von Sprachvergleichen feststellten. Die Roma verließen Nordwestindien vermutlich zwischen dem 5. und 10. Jh.n.Chr., wobei nicht ein angeborener Wandertrieb sie zu dieser Migration veranlasste, vielmehr gelten Kriege, Hungersnöte, Verfolgung und wirtschaftliche Ursachen als Motive. Es waren „Überlebensstrategien in einer ihnen zumeist verschlossenen oder feindlichen Umwelt“, wie der Ethnologe Rüdiger Vossen vom Hamburgischen Museum für Völkerkunde schreibt. Über die Wanderbewegung der Roma gibt wieder die Sprache Aufschluss. Entsprechende Lehnwörter in allen europäischen Romanes-Dialekten belegen, dass die Bewegung über Persien, Armenien, Groß-Griechenland und durch südslawische Gebiete erfolgte.
Im 14. und 15. Jh. erreichten die Roma Mitteleuropa, meist in Gruppen von 30 bis 300 Personen. Chronisten aus jener Zeit berichten von „greulichen und schwarzen Leuten“. Die Einheimischen, die versuchten, die Roma in das bekannte Weltbild einzuordnen, glaubten es mit Ägyptern – daher kommen die Bezeichnungen gypsy (engl.) und gitano (span.) – oder aber mit Mongolen und Tataren zu tun zu haben, mit den „seinerzeit gefürchteten Steppenreitern der ‚Goldenen Horde‘“, wie Vossen erklärt.
Vereinzelt erfuhren Roma bei ihrer Ankunft in Mitteleuropa eine gute Aufnahme. Sie gaben sich als Pilger aus und erhielten Verpflegung und Aufenthaltsrecht für einige Tage. Verschiedene Gruppen erhielten Geleitschreiben von Fürsten und Grafen, am bekanntesten wurde der Freibrief Kaiser Sigismunds aus dem Jahre 1423, den er dem Woiwoden Ladislaus gewährte.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurden Roma „vogelfrei“, also frei zum Abschuss wie die Vögel, es handelte sich um einen Zustand völliger Rechtlosigkeit. Im 18. Jahrhundert erprobten einige Machthaber eine neue Politik in Bezug auf die Roma: die Zwangsassimilierung. Roma sollten ihre Sprache, Bräuche, Berufe etc. aufgeben und Bauern werden. Die Kinder sollten bei Bauernfamilien gegen einen staatlichen Pflegesatz christlich erzogen werden. Unter anderen verfolgten diese Politik Kaiserin Maria Theresia und Josef II. In einigen Gebieten – zum Beispiel im heutigen Burgenland – hatten die Herrschenden mit ihren Zwangsmaßnahmen zum Teil „Erfolg“.
In der Walachei und im Moldaugebiet (im heutigen Rumänien) lebten Roma ca. 500 Jahre lang als Leibeigene. Zur endgültigen Befreiung kam es erst 1855/1856. Damit setzte eine neue Wanderbewegung ein, die etwa 200.000 Menschen erfasste und sich nach Ost-, Mittel- und Westeuropa, aber auch nach Amerika und Australien erstreckte. Vossen weist darauf hin, dass Roma auch zwangsweise in andere Kontinente kamen. So ließ die Kolonialmacht Portugal ciganos nach Afrika, Indien und Brasilien deportieren, Spanien in seine afrikanischen und südamerikanischen Kolonien, Frankreich auf die Westindischen Inseln und nach Louisiana.
Das angeblich „freie Zigeunerleben“ ist also ein Mythos. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieses Bild neben dem weiter bestehenden Rassismus in Literatur, in Oper und Operette transportiert. Bei traditionellen Gruppen herrschen intern meist sehr strenge Regeln, die das Leben ganz besonders der Frauen beeinflussen und in keiner Weise den Phantasien der Nicht-Roma von einem sexuell freizügigen Leben der „ZigeunerInnen“ entsprechen. Und von Seiten der Mehrheitsbevölkerung erfuhren Roma Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung – von Freiheit kann keine Rede sein. Lediglich das Ausüben von Nischenberufen in Selbständigkeit könnte vielleicht als „Freiheit“ gewertet werden.
Doch im Grunde machte es der „Kampf gegen die Zigeunerplage“ und eine Vereinheitlichung der Gesetzgebung den Roma unmöglich, allein durch ihre Lebensweise nicht gegen irgendein Gesetz zu verstoßen (zum Beispiel Reisen mit schulpflichtigen Kindern etc.). Bis zur Machtergreifung Hitlers in Deutschland im Jahr 1933 war in Bezug auf die Zigeunergesetzgebung alles vorbereitet für die schrecklichste Zeit in der Geschichte der Verfolgung der Roma (siehe „Verfolgung während der Nazi-Zeit“ auf Seite 39).
Heute leben in Österreich im wesentlichen sechs Gruppen: Burgenland-Roma, Sinti, Kaldera¡s, Gurbet, Arlije und Lovara. Sie unterscheiden sich unter anderem in sprachlicher Hinsicht wesentlich voneinander. Das Romanes, eine neuindische Sprache mit vielen europäischen Einflüssen (bzw. eine europäische Sprache mit starken indischen Einflüssen), wird in der neueren Forschung in vier Hauptdialektgruppen unterteilt: Nordische Dialekte, Balkandialekte, Zentrale Dialekte und Vlachdialekte (mit rumänischen Lehnwörtern). In allen Ländern, in denen Roma lebten, kam es zur Aufnahme von Lehnwörtern, die auch über die Wanderbewegungen Aufschluss geben. Der indische Erbwortschatz umfasst etwa tausend Wörter. Das Romanes wurde über die Jahrhunderte hinweg mündlich weitergegeben. Es sind intensive Bemühungen zur Standardisierung und Verschriftlichung im Gange. Wie bei anderen Sprachen auch ist dieser Prozess und seine Abstimmung mit den Betroffenen schwierig.
Das Romanes dürfte eine der wenigen Sprachen sein, die in allen Ländern Europas gesprochen wird. Auch in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Australien, Südafrika und in den asiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion findet Romanes Verwendung. In Europa dürften es fünf Millionen Menschen sein, die Romanes sprechen, weltweit bewegen sich die Schätzungen zwischen acht und zwölf Millionen SprecherInnen. Einige Gruppen beherrschen das Romanes nicht mehr – zum Beispiel die spanischen, englischen oder armenischen Roma. Jene, die Romanes sprechen, sind beinahe ausnahmslos zwei- oder mehrsprachig. Auf Romanes wird in der Familie kommuniziert und beim Zusammentreffen mit anderen Roma. Im Kontakt mit den Gad¡ze wird ausschließlich die Sprache der Mehrheitsbevölkerung verwendet.
Vieles an Riten, Bräuchen und Lebensweisen der Roma und Sinti ist inzwischen verloren gegangen. Auf traditionelle Berufe weisen heute noch Bezeichnungen von Roma-Gruppen hin: Kaldera¡s – Kesselschmied, Lovara – Pferdehändler, Tschurara – Siebmacher, Ursari – Bärenführer, Rudari – Bergleute, Aurari – Goldwäscher, Lingurari – Löffelschnitzer usw. Viele führten ihre Berufe gemeinschaftlich aus, um durch den Zusammenhalt der Gruppe eine gewisse Unabhängigkeit von den Nicht-Roma zu erreichen. Welche Berufe die Roma aus Indien mitbrachten, lässt sich schwer beantworten. Das Schmiedehandwerk etwa zählt zu den ältesten Berufen der Roma. Einige Forscher vermuten aber, dass dieses erst in Persien, Armenien und Griechenland erlernt wurde, da im indischen Erbwortschatz des Romanes Bezeichnungen für das Schmiedewerkzeug fehlen. Welche Berufe Roma in Österreich heute wählen, hängt nicht zuletzt von der Gruppenzugehörigkeit ab. Neuere selbständige Berufsfelder sind u. a. Auto-, Altwaren- und Antiquitätenhandel. In den ehemals kommunistisch regierten Ländern sind Roma von einer erschreckend hohen Arbeitslosigkeit betroffen, die in der Ostslowakei im Februar 2004 zu einer Hungerrevolte führte.
Worin sehen Roma und Sinti, nach all den Jahrhunderten, die von Verfolgungen, Ausrottungsbemühungen und Assimilierungen gezeichnet waren, ihre Identität?
Neben dem hohen Stellenwert, den die Familie genießt, und der identitätsstiftenden Funktion der Sprache und verschiedener Musikstile ist das Konzept von romanipen bzw. romipen – das mit Romatum, Roma-Tradition, Roma-Kultur übersetzt werden kann – bei vielen Gruppen nach wie vor wichtig, wenngleich mit Variationen.
Die Säulen von romanipen sind die Gesetze und Bräuche sowie die Begriffe patjiv (Ehre) und lad¡zav (Schande). Von den anderen Roma respektiert zu werden, ist für traditionell lebende Roma von höchster Priorität. Lev Tcherenkov, Rudko Kawczynski und andere Forscher und Roma-AktivistInnen vermuten, dass das Konzept von Ehre und Schande eine Hauptursache dafür sein könnte, dass sich die Roma-Kultur erhalten hat.
Die kris, die eigene Rechtssprechung, und der Glaube an den mulo, den Geist des Toten, findet man bei vielen Roma-Gruppen. Streng sind die Gebote bezüglich ritueller Reinheit und Unreinheit bei traditionell lebenden Roma. Nach Vossen beziehen sich die Meidungs- und Reinheitsvorschriften auf den weiblichen Körper und Organismus, auf die Trennung der Geschlechter nach Altersstufen, auf die Trennung von den Nicht-Roma, auf Hygiene, Nahrung und Nahrungsbereitung und auf den Tod. So muss die Wäsche von Frauen und die Wäsche von Männern getrennt gewaschen werden und der Genuss von Pferdefleisch ist bei mehreren Gruppen verboten. Starb bei den Sinti das Mitglied der Gruppe im Wohnwagen oder im Zelt, so musste dieser/s verbrannt werden.
Im Jahr 1988 drehten Bert Breit und Xaver Schwarzenberger in Österreich einen Dokumentarfilm über Sinti und Roma mit dem Titel „Ihr werdet uns nie verstehen“. Dieser Ausspruch hat wohl folgenden Hintergrund: Nicht-Roma kennen die Roma-Kultur, ihre Normen und Gesetze nicht, daher bleibt vieles unverständlich. Eine Begegnung mit Roma, ihrer Sprache und ihrer Kultur ist ein Weg in die Fremde. Am allerfremdesten auf diesem Weg erscheinen dann aber häufig die sogenannte „eigene“ Kultur, die Kultur der Nicht-Roma, und die unzähligen Konstruktionen, die von „Zigeunerinnen“ und „Zigeunern“ entworfen wurden.
Die Zitate im Text stammen aus Rüdiger Vossen: Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung, Ullstein Sachbuch, Frankfurt / M. 1983.
Die Autorin hat eine umfangreiche Literaturliste
erstellt, die wir interessierten LeserInnen zum
Download empfehlen.