Die indischen Dalits, die „gebrochenen Menschen“ – immerhin fast ein Viertel der Ein-Milliarden-Bevölkerung – haben auf Grund landesweiter Organisierung bereits einige Besserstellungen erreicht. Misshandlung und Unterdrückung bestimmen jedoch weiterhin ihren Alltag, berichtet aus Indien
„Ein Grundbesitzer wollte eine Dalitfrau zum Beischlaf zwingen. Nachdem sie sich erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte, heuerte der Mann eine Gruppe an, die zum Haus der Frau ging, ihr die Hand abhackte und ihren Mann und Sohn verletzte“, erzählt eine zweite.
„Unseren Lohn bekommen wir in Form von Getreidebällchen. Doch anstatt diese in die Gefäße in unseren Händen zu füllen, haben sie uns die Grundbesitzer immer wieder über den Kopf geleert“, schildert eine dritte.
„Zwei Brüder aus einer hohen Kaste waren in einen Landkonflikt verwickelt. Als der eine einem Dalitjungen befahl, die elektrische Pumpe auf dem umstrittenen Grundstück in Gang zu setzen, verursachte der andere einen Kurzschluss. Der Junge fiel in den Brunnen und starb. Danach waren sich die Brüder einig: Es war ein Unfall“, berichtet eine vierte und ergänzt: „Der Verlust von Leben ist Teil unseres Kampfes. Immer wieder muss jemand sein Leben lassen in unserem Ringen darum, endlich als Menschen mit Rechten und Würde anerkannt zu werden.“
Wenn die Dalitfrauen an diesem Frühsommertag bei ihrem Treffen in einem kleinen Ort im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu ausführlich die Gewalt schildern, die ihren Alltag kennzeichnet, so können sie doch zugleich auch Erfolge vermelden, die sie in ihrem Kampf bereits errungen haben.
Gegen die eingangs erwähnte Verprügelung durch die Mitglieder der hohen Kasten wussten sich die Dalits zur Wehr zu setzen. Sie holten die Polizei – die tatsächlich kam – und weigerten sich dann sechs Monate lang, Arbeit für die hohen Kasten zu leisten. Heute leben der junge Dalit und die von ihm ‚entführte‘ Frau mit ihren Kindern in der Dalitgemeinde.
Möglich war der Widerstand freilich nur, weil es in der Region bereits eine Organisation von und für Dalits gab – die „gebrochenen Menschen“, wie sich die Unberührbaren, die unter- und außerhalb des hinduistischen Systems mit seinen vier Haupt- und Tausenden Unterkasten stehen, heute selbst nennen. Der Seed-Trust für soziale Bildung und wirtschaftliche Entwicklung unterstützte die streikenden Dalits moralisch und finanziell.
Erfolge dieser Art gibt es viele. „Es bewegt sich etwas“, bestätigt auch Paul Divakar, das für Lobbying zuständige Mitglied der Nationalen Kampagne für die Menschenrechte der Dalits. Diese verficht die Anliegen der Dalits auf Regional- und Bundesebene und bringt sie auch in allen einschlägigen internationalen Foren wie etwa der UN-Konferenz gegen Rassismus ein. Die Kampagne hat von den Vereinten Nationen auch die Einsetzung eines Sonderberichterstatters über die Rechte der Dalits respektive deren Missachtung verlangt und arbeitet an Strategien, um diese Forderung auch durchzusetzen.
„Aber die Fortschritte kommen nicht so rasch wie in anderen Bevölkerungsgruppen.
Insgesamt ist die Lage noch immer sehr schlecht“, sagt Divakar.
Der Begriff „schlecht“ erscheint als krasse Untertreibung, wenn man allein die Gewalttaten bedenkt, die bei einer von der Kampagne veranstalteten öffentlichen Anhörung im April in der Hauptstadt von Tamil Nadu, Chennai (ehemals Madras), zur Sprache kamen. In der 1950 proklamierten indischen Verfassung finden sich sehr fortschrittliche Paragraphen – wie der Artikel 17, der die Unberührbarkeit abschafft. Seither wurde auch eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die Rechte aller BürgerInnen gewährleisten und schützen respektive Gräueltaten gegen Dalits vorbeugen sollen. Trotz allem kam die Jury bei dem Hearing im April zu dem Schluss, dass:
– Der Staat selbst sich weiterhin der Gewalt gegen die Dalits schuldig macht;
– der Staat, und ganz besonders die Polizei, in zahlreichen Regionen aller Bundesstaaten die herrschenden Kasten stützt;
– der Staat es selbst verabsäumt, Gesetzen und Verordnungen Folge zu leisten, und auch nicht durchgreift, wenn die dominanten Kasten Gräuel an den Dalits verüben;
auch die Justiz nicht mit genügend Sensibilität und Dringlichkeit auf die Verletzung der Rechte der Dalits reagiert hat.
Rund 240 Millionen Dalits leben nach Angaben der am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, im Jahre 1998 lancierten Kampagne in Indien. Sie rechnet zu den meistens genannten 170 Millionen auch die zum Christentum oder Islam konvertierten Dalits hinzu.
Auch 53 Jahre nach der Unabhängigkeit des Subkontinents schneiden diese Menschen – immerhin knapp ein Viertel der inzwischen eine Milliarde InderInnen – bei allen sozialen und ökonomischen Indikatoren am schlechtesten ab.
Einzelne mögen den Aufstieg geschafft haben: So hat das Land mit Kocheril Raman Narayanan heute den ersten Dalit im Amt des Staatspräsidenten. Und bereits Mitte der 90er-Jahre wurde mit Mayawati die erste Dalitfrau Chefministerin eines indischen Bundesstaates, noch dazu des mit mehr als 150 Millionen EinwohnerInnen bevölkerungsreichsten, Uttar Pradesh.
Doch die allermeisten Dalits fristen weiterhin eine von Entbehrung, Unterernährung, mangelndem Zugang zu Bildung, Arbeit und Landbesitz, sowie von vielfältigen Formen der Diskriminierung und Gewalt geprägte Existenz. Laut im Verlauf der 90er-Jahre von staatlichen und privaten Stellen ermittelten Daten liegt die Säuglingssterblichkeit bei Dalits mit 91 pro 1000 Lebendgeburten bis zu 45 Prozent über dem landesweiten Durchschnitt. Knapp 60 Prozent aller Dalitkinder unter vier Jahren sind unterernährt. Lediglich ein Drittel der Dalits sind alphabetisiert. An die 90 Prozent haben keinen Zugang zu Sanitäranlagen.
Die Dalitfrauen sind dabei nach Angaben von AktivistInnen gleich dreifach diskriminiert: zunächst generell als Dalits, dann speziell als Dalitfrauen, die von den Männern der dominanten Kasten sexuell ausgebeutet und misshandelt werden, und drittens als Dalitfrauen, die auch seitens der eigenen Dalitmänner Gewalt und Unterdrückung zu gewärtigen haben. Letzteres Thema ist selbst für Frauen, die sich in der Öffentlichkeit an der Seite ihrer Männer oder sogar unabhängig von diesen engagieren, besonders schwierig anzusprechen.
In vielen der rund 600.000 Dörfer des Subkontinents ist Dalits weiterhin der Zugang zum öffentlichen Brunnen untersagt, dürfen die „Gebrochenen Menschen“ die Straßen oder Wege durch die Viertel der dominanten Kasten gar nicht oder nur mit bloßen Füßen benützen, wird einem Dalitbräutigam untersagt, wie bei Hinduhochzeiten üblich, auf einem Pferd zur Zeremonie geritten zu kommen. In Teeläden werden eigene Tassen und Gläser für Dalits bereit gestellt – die diese zum Teil auch noch selbst waschen müssen.
Nie können Dalits vollkommen sicher sein vor Gewalt seitens der „dominanten“ Kasten. Diese Bezeichnung wird der der „hohen“ Kasten vorgezogen. Denn in einem Bezirk oder Dorf kann die herrschende Kaste eine in der Gesamthierarchie durchaus niedrige sein, die ihre Machtposition dem Nichtvorhandensein von Angehörigen hoher Kasten verdankt.
Besonders gefährdet aber sind Dalits, wenn sie sich zu wehren beginnen. In den Dörfern hat Widerstand nur in der Gruppe Sinn, sagt eine Vertreterin der Kampagne. „Wenn du allein bist, bringen sie dich einfach um.“ Auch Gruppen oder ganze Dörfer sind vor Morden freilich nicht gefeit, wie in regelmäßigen Abständen verübte Massaker an Dalits bezeugen.
Die Kampagne hat nach den Worten Divakars bereits einiges erreicht: So wurde erstmals überhaupt eine breite Plattform von DalitaktivistInnen, AkadmikerInnen, Menschenrechtsorganisationen und diverser Bewegungen der Zivilgesellschaft geschaffen, die die Rechte der Dalits zu einer Menschenrechtsfrage erhoben hat und dieses Thema auch in internationale Foren trägt. Ziel ist es, „uns Dalits aus der Sklaverei zu befreien, die von Generation zu Generation durch das Kastensystem weiter geführt wird“, heißt es in den Unterlagen der Kampagne. „Doch die wirkliche Emanzipation ist noch ein ferner Traum für uns.“
Die Autorin ist außenpolitische Redakteurin der Tageszeitung „Der Standard“ und bereiste kürzlich vier Wochen lang den indischen Subkontinent.
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