Beim „Kongress der Belaruss*innen der Welt“ im September in Litauen haben sich mehr als 40 Organisationen und Initiativen der belarussischen Diaspora aus 27 Ländern getroffen, um gemeinsame Strategien für die Zukunft zu entwickeln. Ein subjektiver Bericht einer prodemokratischen Belarussin.
Mit einem milden, vertrauten Lächeln und warmen Leuchten in den Augen werde ich Ende September von Swetlana Tichanowskaja im Konferenzsaal des Corner Hotels im Zentrum der litauischen Hauptstadt Vilnius empfangen. Sie sitzt nicht auf dem Podium, sondern in einer der hinteren Reihen, und verfolgt den „Kongress der Belaruss*innen der Welt“. Der Saal ist voll – mehr als 40 Organisationen und Initiativen der belarussischen Diaspora aus 27 Ländern sind der Einladung von Tichanowskaja gefolgt.
Tichanowskaja ist gelungen, was keiner Opposition in Belarus bisher gelungen ist – Menschen zu vereinen und Hoffnung zu geben. Sie ist zu einem Symbol der Überwindung geworden: der eigenen Schwäche, der eigenen Ängste, der eigenen Grenzen. Es ist diese Überwindung, die eine apathische, passive Gesellschaft in den Widerstand gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko geführt hat.
Aktive Diaspora. Die belarussische Diaspora spielt dabei eine entscheidende Rolle. Über Spendenkampagnen wurden dringend benötigte Mittel für Opfer der Gewalt sowie politische Gefangene gesammelt. Tausende Solidaritätsaktionen und Demonstrationen fanden im Ausland statt. Bildungs- und Schulprojekte wurden initiiert, digitale Projekte zur Stärkung der belarussischen Zivilgesellschaft initiiert, Stipendien für exmatrikulierte Studierende vergeben.
Die „Belarussischen Volksbotschaften“, basisdemokratische Vertretungen der belarussischen Bevölkerung in 17 Ländern sorgen dafür, dass Belarus international auf der politischen Tagesordnung bleibt.
Dank dem großen Druck der belarussischen Diaspora auf die Sponsoren entzog etwa der Eishockey-Weltverband dem Lukaschenko-Regime die Weltmeisterschaft 2021 – eine Niederlage für den belarussischen Langzeitherrscher, der sich international als Sportliebhaber und -förderer in Szene setzt und Sport für seine politischen Zwecke instrumentalisiert.
Zigtausende verhaftet. Das Ausmaß der Gewalt in Belarus ist beispiellos. Seit dem Ausbruch der Massenproteste gegen die Wahlfälschungen im August 2020 wurden mehr als 32.000 Menschen verhaftet, 700 landeten für ihre politischen Ansichten im Gefängnis, Zehntausende wurden zur Flucht gezwungen.
Polen allein stellte seit August vergangenen Jahres 150.000 humanitäre Visa für geflüchtete Belaruss*innen aus. Dabei dürfte die Dunkelziffer noch deutlich höher liegen.
Unter den Kongress-Delegierten in Vilnius sind viele Betroffene, die selbst Opfer von Repressionen waren und ins Ausland fliehen mussten, oder Familienangehörige, deren Verwandte in Belarus in Haft sitzen.
Die Präsidentschaftswahlen 2020 haben noch keinen politischen Wandel in Belarus herbeigeführt, dank russischer Unterstützung und dem brutalen Einsatz von Gewalt gegen die Protestbewegung konnte sich Lukaschenko bis heute im Amt behaupten.
Doch das neue Belarus ist da – das sind Menschen, die ihre Apathie, ihre Angst, ihre Grenzen jeden Tag überwinden, um sich dem Leben in Freiheit und Würde zu nähern, damit wir in Zukunft nicht mehr in Medien von der „letzten Diktatur Europas“ lesen müssen, sondern von einem Land, dessen Freiheitskampf in die Geschichtsbücher einging.
Hanna Stähle ist Belarussin, sie lebt und arbeitet in Brüssel und engagiert sich zivilgesellschaftlich für ein demokratisches Belarus. Sie studierte in Minsk, Passau und Moskau. 2018 schloss sie ihre Promotion in Slawischer Kulturwissenschaft ab.
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