Die Armutsbekämpfung ist in Venezuela gelungen, Bildung und Gesundheitsversorgung sind kostenlos – und der Staat baut seine Lenkungsmechanismen immer mehr aus.
Der Sternenhimmel ist in Cumana im Bundesstaat Sucre zur Zeit besonders gut zu sehen, dies ist aber auch schon der einzige Vorteil der aktuellen Stromknappheit in Venezuela. Die Menschen müssen seit letztem Jahr eine Rationierung von Strom in Kauf nehmen, so dass die Stadtviertel abwechselnd jeden zweiten Tag für ein paar Stunden im Dunkeln bleiben. Als Grund nennt die Regierung den Klimawandel, der dem größten Stausee Venezuelas weniger Wasser als früher beschert und deshalb zu einer geringeren Stromgewinnung führt. Große Teile des Festlandes sind von dieser einen Stromquelle abhängig: ein deutliches Planungsversäumnis in der Energiepolitik.
Ein weiteres Thema belastet die Bevölkerung im Moment in ihrem täglichen Leben: Einkaufen. Die Versorgungslage mit Lebensmitteln ist schlecht, diese sind außerdem durch die hohe Inflation sehr teuer.
In den Supermärkten sind Grundnahrungsmittel wie Mehl, Milch, Zucker oder Reis nur schwer zu finden. Die Menschen müssen dann überteuert bei StraßenhändlerInnen kaufen oder stundenlang in den Warteschlangen anstehen, die sich um die mobilen Verkaufsstände der Regierung bilden. Dort werden knapp gewordene Lebensmittel billig verkauft.
„Der Präsident und die großen Nahrungsmittelunternehmen spielen ein Spielchen“, sagt Belkis García, alleinerziehende Mutter, „und die Leidtragenden sind wir, das Volk!“
Tatsächlich halten große venezolanische Nahrungsmittelunternehmen immer wieder absichtlich Lebensmittel zurück, um die Regierung und deren Plan einer bolivarischen Revolution mit dem Ziel eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu behindern. Die Regierung beschlagnahmt oft solche Lager mit zurückgehaltener Ware und verkauft die Produkte an die Bevölkerung.
Seit 2003 wurden von der Regierung eine Reihe von Sozialprogrammen – so genannte Misiones – eingerichtet, mit denen das Volk am Gewinn aus dem Erdölgeschäft beteiligt werden soll. In den sieben Jahren kann die Regierung vor allem auf dem Bildungs- und Gesundheitssektor Erfolge verbuchen. Am eindruckvollsten ist wohl die Reduzierung der Analphabetenquote auf 0,4% der Bevölkerung (laut offiziellen Angaben).
Belkis García hat sich mit 41 Jahren einen Lebenstraum erfüllt und in der Misión „Sucre“ angefangen zu studieren, einem Regierungsprogramm für Hochschulbildung. So verbringt sie ihr Wochenende nun im Gebäude einer öffentlichen Schule, die samstags und sonntags zur Universität umfunktioniert wird. Im Jahr 2008 waren im ganzen Land 458.000 Menschen in der Mision „Sucre“ eingeschrieben, das waren mehr als in allen nationalen Universitäten zusammen.
Im Gesundheitsbereich wurde ein kostenloses und für alle zugängliches Gesundheitssystem geschaffen, das für die Ärmsten der Gesellschaft eine enorme Verbesserung bedeutet. Früher war jeder Arztbesuch für Menschen ohne Krankenversicherung mit hohen Kosten verbunden.
Die angesprochenen Maßnahmen trugen unter anderem dazu bei, dass die Armut in der bisherigen Regierungszeit des Präsidenten Hugo Chavez gesunken ist: Lebten 1998 noch knapp die Hälfte der Bevölkerung in Armut, so reduzierte sich diese Anzahl auf 24% im Jahr 2008, die extreme Armut konnte im selben Zeitraum laut Nationalem Statistikinstitut auf 6% zurückgedrängt werden. Auch auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Agrarpolitik hat die Regierung Misiones eingerichtet: Mit der Misión „Vuelvan Caras“ wurden SlumbewohnerInnen unterstützt, damit sie in ländliche Gebiete umziehen konnten, um dort landwirtschaftliche Kooperativen zu betreiben. Doch dieses Programm wird von der Regierung selbst als gescheitert betrachtet, denn es waren von 108.000 Kooperativen (2006) zwei Jahre später nur noch 15.745 aktiv.
Seit sich 2006 mehrere linke Parteien zusammengeschlossen und die Einheitspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) gegründet haben, bekamen auch die sozialen Bewegungen den „Wind“ der Vereinheitlichung zu spüren. Hono Turin von einer unabhängigen Kooperative in Barquisimeto meint, dass der Staat in letzter Zeit versuche, die fortschrittlichen Gesetze rückgängig zu machen und die Unabhängigkeit der Genossenschaften einzuschränken.
Der Soziologe Rafael Uzcátegui von der Menschenrechtsorganisation Provea erklärt in diesem Zusammenhang, dass sich mit dem Anspruch der PSUV, die einzige politische Organisation des bolivarischen Prozesses zu sein, auch die verschiedenen sozialen Organisationen und Gewerkschaften auflösen müssten. Wenn sie ihre Eigenständigkeit beibehalten wollen, werden sie als Feinde des Prozesses abgestempelt.
So werden die sozialen Bewegungen durch neue Formen sozialer Organisation ersetzt, die direkt dem Präsidenten unterstehen und die die Eckpfeiler des neuen Modells der partizipativen Demokratie darstellen. Dieses Modell soll die Teilnahme des Volkes vergrößern und die Gemeinden dazu ermächtigen, ihre Probleme selbst zu erkennen und zu lösen. Die Einführung der „Consejos“ habe aber vor allem Klientelismus, Korruption und Zentralisierung zur Folge, so die Umweltaktivistin und Forscherin María Pilar García Guadilla, die keine partizipative Kultur in dem neuen Regierungsmodell erkennen kann. Sie kritisiert auch die Praxis der Regierung, Geld an die Bürgerräte zu übergeben, ohne dass die nötigen transparenten Mechanismen vorhanden seien. Dadurch werde der Korruption Vorschub geleistet.
Wenn man Belkis García auf diese Probleme anspricht, meint sie, dass die Menschen zwar unzufrieden mit ihren derzeitigen Lebensumständen seien, aber es keine bessere Alternative zur staatlichen Politik gebe.
Die Autorin studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien und hielt sich kürzlich zu Studienzwecken längere Zeit in Venezuela auf.
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