Im indischen Teil Kaschmirs erhebt sich die muslimische Mehrheit wieder gegen die als Unterdrückung empfundene indische Herrschaft. Eva Maria Teja Mayer berichtet von der Stimmung im Land.
"Ham kya chatey: Azadi!“ – „Was wir wollen ist: Freiheit!“ Jedes Kind im Tal von Kaschmir kennt diesen Slogan, die Kleinen spielen „Protest“ oder „Freiheitskrieg“ gegen Polizei und indische Besatzungstruppen, die Größeren machen ernst. Bereits die dritte Generation wächst mit dem 70-jährigen Konflikt heran. Bis 1947 war Kaschmir ein eigenständiges Fürstentum. 1947 wurde die ehemalige Kolonie Britisch-Indien in das muslimisch dominierte Pakistan und in die hinduistisch geprägte Indische Union geteilt. Seither kontrolliert Pakistan Gilgit, Baltistan und das teilautonome „Azad Jammu & Kaschmir“. Indien beansprucht zwei Drittel der Region als „Jammu & Kashmir“ (J&K) mit knapp 13 Mio. EinwohnerInnen, die Mehrheit ist muslimisch. Gewaltsame Auseinandersetzungen in der Region sind die Folge der Bestrebungen vieler Kaschmiris nach Unabhängigkeit und der als Unterdrückung empfundenen indischen Herrschaft. Mit einer Truppenstärke von über 700.000 gilt J&K als die am stärksten militarisierte Region der Welt.
Zersplitterte Front. Derzeit eskalieren die Spannungen wieder. Die PDP (Peoples Democratic Party), die 2014 noch die Wahlen in J&K gewonnen hatte, ließ sich auf eine Koalition mit der nationalistischen Hindu-Partei BJP (Bharatiya Janata Party) ein, der auch der indische Premier Narendra Modi angehört. „Die Menschen sind von der Politik enttäuscht – und von Delhi sowieso“, analysiert ein lokaler Journalist, der anonym bleiben will. Der Auslöser für den aktuellen Aufstand sei aber Burhan Wanis Tötung durch indische Sicherheitskräfte am 8. Juli. Er war ein sehr beliebter Freiheitskämpfer und Kommandant der Hisbul-Mujahidin, der größten kaschmirischen Guerilla-Gruppe. Unterschiedliche bewaffnete wie unbewaffnete Gruppierungen bilden zwar keine gemeinsame Front, teilen aber ein gemeinsames Ziel: Sie fordern eine Volksabstimmung über den Verbleib bei Indien bzw. Pakistan oder einen unabhängigen, muslimischen Staat.
Ausgangssperre, Streiks, geschlossene Schulen und Ämter, sowie die Angst, dass Angehörige bei Protesten getötet oder bei einer nächtlichen Razzia von Uniformierten verhaftet und Frauen belästigt werden, gehören seit Burhans Tod zum Alltag. Auf Postern an Hauswänden ist der 22-jährige Burhan allgegenwärtig, in sozialen Medien sicherte er der Guerilla mit seinen professionellen Auftritten ein Popularitätshoch: Nach seinem Tod griffen viele junge Männer zu den Waffen. Indische Militärs schätzen die Zahl der Kämpfer – „Terroristen“ in den Augen der Regierung – auf knapp 150, in Kaschmir selbst spricht man vom Doppelten. An Burhans Begräbnis nahmen laut Augenzeugenberichten mehr als 200.000 Menschen teil. Darauffolgende zunächst friedliche Demonstrationen für Selbstbestimmung eskalierten. Indische Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer auf mit Steinen bewaffnete Protestierende. Das öffentliche Leben samt behördlichen Ausgangssperren richtet sich nun nach dem wöchentlichen „Protestkalender“ der Separatisten.
Die Gesamtfläche Kaschmirs beläuft sich auf rund 222.000 km². Der indische Teil Kaschmirs teilt sich in die Divisionen Jammu, Kaschmir und Ladakh mit insgesamt 22 Distrikten und ca. 12,5 Mio. Menschen. Pakistan hält die Regionen Gilgit-Baltistan und das teilautonome pakistanische Asad Kaschmir, zusammen 84.000 km² und rund 3,5 Millionen EinwohnerInnen. In von China beanspruchten Gebieten, u.a. Aksai Chin mit 37.000 km², leben einige Tausend BewohnerInnen. cs
Kontrollen. Internet und Mobiltelefonie wurden von der Regierung nach Burhans Tod massiv eingeschränkt, lokale TV-Sender vom Netz genommen. Das Vorankommen durch das Land ist schwierig. Jugendliche, oft vermummte Separatisten kontrollieren an Straßensperren aus Baumstämmen und Steinen Fahrzeuge und Ausweise, sie überwachen die Einhaltung der ausgerufenen Streiks. Selbst ein Krankenwagen wird gecheckt; einige Burschen sind mit Stöcken und Metallruten bewaffnet. „Sie möchten sichergehen, dass drinnen keine Polizisten in Zivil sitzen“, erklärt ein Mopedfahrer hinter vorgehaltener Hand. Am Rand der Hauptstadt Srinagar lassen sich die Separatisten fotografieren, man möchte die Weltöffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen und den „Staatsterrorismus“ Indiens aufmerksam machen. „Berichte genau, was in Kaschmir passiert“, mahnt ein maskierter junger Mann: „Wahrheitsgetreu, nicht so wie die indischen Medien!“
Spitzelwesen. Verglichen mit den unterdrückten Revolten von 2008 und 2010 ist die Stimmung aggressiver, die Angst vor AgentInnen der Regierung sitzt tief. Arbeitslose Jugendliche aus sozial schwachen Familien werden sowohl von separatistischen Parteien und Gruppierungen als auch von den Geheimdiensten Indiens und der Polizei fürs Protestieren angeheuert, um die Revolte weiter anzuheizen. „Zehn bis zwanzig Prozent der Menschen auf den Demos werden fürs Steinewerfen bezahlt“, schätzt ein pensionierter Beamter. „200 bis 500 Rupien gibt es pro Einsatz, je nach Gefährlichkeit.“ 500 Rupien, weniger als sieben Euro, entsprechen dem Tageslohn eines Facharbeiters. Ein Hilfspolizist erhält 6.000 Rupien im Monat. Auch das ist nicht viel zum Leben und fördere die Korruption, auch in Polizeikreisen, so ein Fotojournalist; als „Lösegeld“ für verhaftete Teenager sollen die Behörden bis zu 60.000 Rupien verlangen. „Es gibt viele, auf beiden Seiten, die zu gut an Kaschmir verdienen, um an Frieden interessiert zu sein“, beklagt ein einheimischer Reiseveranstalter, der diese Sommersaison wegen der Revolte abschreiben muss: „Politiker denken meist an sich selbst.“
Traurige Bilanz. Seit dem Tod Burhans wurden im Zuge des Aufstandes an die 100 ZivilistInnen getötet, nahezu 14.000 verletzt, darunter viele Kinder. Nicht alle haben an Protesten teilgenommen. Insha, 14, aus einem Dorf in Shopian, schaute aus dem Fenster, als Schrotkugeln aus Blei ihr das Augenlicht zerstörten. Mohammad, 16, dagegen demonstrierte in Pulwama. „Friedlich“, wie er betont: „Wir haben nur Slogans gerufen.“ Später fielen Schüsse, er bekam eine Ladung Schrotkugeln ab, sein linkes Auge bleibt wahrscheinlich blind. Nun liegt er im Spital. Warum er das Risiko auf sich nahm? „Wir kämpfen für unsere Rechte, einen unabhängigen Staat im Tal von Kaschmir, aber auch für den Islam.“
Indische Medien bezeichnen den Aufstand als vom muslimischen Pakistan geschürte „Unruhe“, die meisten Menschen in Kaschmir sprechen von „Revolte“ oder „Revolution“. Einen Anschluss an Pakistan wünschen sich nur wenige, aber pro-pakistanische Slogans und Fahnen sollen Indien provozieren. In den Städten hängen die Menschen eher dem Ideal einer westlich-liberalen Demokratie an, in Dörfern träumen viele von einem islamischen „Kalifat“. Vergleiche mit dem IS in Syrien und im Irak weist man aber empört zurück. Auch Shakeel Bakshi, einer der wenigen Separatistenführer, der sich (noch) auf freiem Fuß befindet, sieht keine Verbindung zum IS. „Es ist erst der Beginn einer Revolution“, analysiert er. „Das rechtsradikale Regime in Indien missbraucht die globale Terrorismus-Bedrohung als Vorwand, um Minderheiten wie Nicht-Hindus oder Dalits in Indien zu unterdrücken – so wie uns Muslime hier in Kaschmir. Gespräche waren erfolglos. Kein Wunder, dass sich unsere Jugend enttäuscht vom Westen abwendet, der Modi unterstützt. Was bleibt uns anderes als ein bewaffneter Freiheitskampf, um unser Recht auf Selbstbestimmung zu wahren?“
Eva Maria Teja Mayer lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Reisen und Feldforschungen vor allem in Asien. Den letzten Sommer verbrachte sie im Tal von Kaschmir.
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