Auf der Versuchsfarm Bija Vidyapeeth in Nordindien werden Saatgut und Wissen bewahrt und mit Bauern und Bäuerinnen geteilt.
Bija Didi hat die wichtigste Aufgabe auf der Farm: Die zierliche 63-Jährige ist „Seedkeeper“ hier am Lehr- und Versuchshof Bija Vidyapeeth im nordindischen Uttarakhand. Bija kümmert sich um das Saatgut auf der Vorzeigefarm. Diese wurde 2001 von der weltberühmten indischen Physikerin und Umweltaktivistin Vandana Shiva gegründet – als Teil des Netzwerkes Navdanya, das in 17 Bundesstaaten in Indien vertreten ist. Navdanya hat bisher 111 Gemeinschafts-Saatgutbanken in Indien geschaffen. So genannte Saatgut-Souveränität ist eine wesentliche Voraussetzung für Ernährungssouveränität und eine nachhaltige Landwirtschaft.
Bija tritt selbstsicher, fast herrisch auf. Wenn sie erzählt, hören ihr die Menschen gerne zu: „An einer einzigen Ähre Reis wachsen je nach Sorte etwa 200 Samen. Aus jedem entsteht wieder eine neue Pflanze, komplett ausgestattet mit allem, was sie zum Leben braucht und mit jeder Generation neu an die Umwelt angepasst“, so die Bäuerin. „Die Fähigkeit, neues Leben zu schaffen, verleiht dem Samenkorn die Symbolkraft und führt dazu, dass es zu allen Zeiten verehrt und respektiert wurde.“
Seit Bija vor zwei Jahrzehnten auf der Suche nach Arbeit hier landete, wacht sie über den gesamten Prozess der Saatgutgewinnung: Nach der Ernte wird das Getreide getrocknet, gedroschen, dann werden die Körner noch einmal getrocknet, gereinigt, sortiert und in Behälter abgefüllt.
Neben einheimischen Arbeitskräften kommen auch internationale Freiwillige hierher – wie auch die Autorin. Helfende Hände sind immer gern gesehen. Mal gibt es Unkraut zu jäten, junges Wintergemüse umzupflanzen oder eine Lösung für den Strohtransport in den Stall zu finden. Alltag auf dem Bauernhof eben.
Didi erzählt gerne während der gemeinsamen Arbeit. Sitzt eine Runde im Kreis und sortiert Reis, erklärt sie etwa, was man mit dem Reis alles kochen kann. Auf der Bija Vidyapeeth-Farm werden über 600 Reissorten angepflanzt – jede auf einer Fläche von fünf Quadratmetern. Fingerhirse mit ihren kleinen, prallen Ähren dient als Abtrennung zwischen den Feldern und bringt zusammen mit Tagetes etwas optische Vielfalt auf den Acker.
Es ist gerade Erntezeit. Die frisch geschnittenen Reisähren werden in tragbare Bündel geschnürt und in einem Kreis am Boden zum Trocknen übereinander gestapelt, bis für jede Sorte ein kleiner Haufen entsteht.
Danach schlagen die HelferInnen die Bündel gegen ein Holzkreuz, bis sich die Körner lösen. Diese Arbeit dauert mehrere Tage. Bija Didi unterstützt diejenigen, die noch ungeübt sind. Bei jedem Schlag muss das Bündel ein bisschen geschüttelt werden. Die ArbeiterInnen finden durch Singen einen gemeinsamen Rhythmus. Nach vollbrachtem Werk sind alle nicht nur zerkratzt und todmüde, sondern strahlen zufrieden angesichts der fertig geschnürten schweren Reissäcke.
600 Reissorten: In der industriellen Landwirtschaft Indiens nutzt man diesen Schatz nicht. Man folgt dem Prinzip der Monokultur einiger weniger Sorten. Es gibt zwar gezüchtete Arten für bestimmte Gegebenheiten, die zum Beispiel dürreresistent sind. Doch in einem Jahr ohne Dürre wachsen diese dafür nur sehr schlecht oder gar nicht. Wenn eine neue Bedrohung die Pflanzen herausfordert, ist die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass sich diese Pflanzen darauf einstellen. Anstatt sich die natürliche Evolution durch Anpassung zunutze zu machen, wird Saatgut an einem Ort künstlich entworfen und von dort aus in alle Welt verkauft. Das Versprechen der Industrie, dass sich bei gentechnisch verändertem Saatgut der Einsatz von Pestiziden verringern würde, wird nicht eingehalten. Im Gegenteil: Studien belegen, dass 13 mal mehr Pestizide verwendet werden.
Zudem wird das Saatgut so manipuliert, dass es in der zweiten Generation unfruchtbar ist und jedes Jahr neu gekauft werden muss.
Teures Saatgut und teure Pestizide führen dazu, dass in Indien viele Bauernfamilien verschuldet sind. Nach der Verwendung hochgezüchteten Saatguts ist der Boden oft ausgelaugt und braucht weitere künstliche Düngemittel. Saatgut für alte Sorten ist nur noch schwer erhältlich. Eine Rückkehr zur traditionellen Landwirtschaft ist ohne Hilfe fast unmöglich. Und hier setzt Navdanya an.
Zeitig in der Früh fährt Annand, der regionale Koordinator auf der Farm, mit seinem Pickup in die Dörfer der Umgebung. Er verteilt Saatgut von der diesjährigen Reisernte an Bäuerinnen und Bauern, die einen Teil ihres Landes wieder biologisch bewirtschaften wollen. Sie bekommen das Saatgut im ersten Jahr kostenlos. Für ein Kilo Reis müssen sie entweder im nächsten Jahr 1,5 Kilo an Bija Vidyapeeth zurückgeben – oder jeweils ein Kilo an zwei andere Bäuerinnen und Bauern. Damit ist sicher gestellt, dass das Saatgut vermehrt wird. Alle Bäuerinnen und Bauern sind zugleich MultiplikatorInnen. Saatgut wird dezentral weitergezüchtet und dezentral verteilt. Es gehört den Menschen, die dadurch unabhängiger von den Saatgutkonzernen agieren können.
Die Bewahrung und Vermehrung von Saatgut ist eine zentrale Aktivität von Navdanya. Doch Navdanya hat bisher nicht nur 3.000 Arten von Reis konserviert, es hat auch 500.000 Bäuerinnen und Bauern trainiert. Das Netzwerk bietet Unterstützung und Training in anderen Bereichen nachhaltiger Landwirtschaft. Ziel ist eine vielfältige Landwirtschaft, die zuerst die Familie ernährt. Überschüsse sollen in der nahen Umgebung, in der Region und schließlich auf dem indischen Markt verkauft werden, auf Cashcrops für den Export in zahlungskräftige Länder soll verzichtet werden. Nur Überschüsse von speziellen Produkten wie Basmatireis oder Kurkuma werden an Handelspartner wie den deutschen Fair-Trade-Importeur GEPA verkauft.
Mit Hilfe von Publikationen sowie durch Vorträge und Veranstaltungen werden KonsumentInnen in ganz Indien über Navdanya informiert. Auch neue Mitglieder für das Netzwerk werden so geworben. Vandana Shiva selbst kehrt alle paar Monate von ihren Reisen um die halbe Welt zu Bija Vidyapeeth, zu „ihrer“ Farm, zurück, um Kurse zu halten – und sich zu erholen.
Propagiert wird ein Wirtschaften, das sich ökologische Kreisläufe zu Nutze macht. Beim Reisanbau spielen zum Beispiel Kühe und Würmer eine besondere Rolle. Zum Vorziehen der Reispflanzen eignet sich besonders gut Kompost, den Regenwürmer aus Kuhdung produzieren. Dazu braucht es nur einen überdachten Beton- oder Holzboden, auf dem Kuhdung ausgebreitet und mit einer Handvoll Regenwürmer versehen wird. Alles weitere erledigen die fleißigen Würmer innerhalb eines Monats. Nach der Ernte und dem Dreschen des Reises wird das, was übrig bleibt, klein geschnitten und als Stroh für die Kühe verwendet. Gepflügt wird mit Ochsen, die nur geringfügig in das Ökosystem Boden eingreifen, weil ihre Hufe den Boden nicht zusammenpressen wie die schweren Traktoren. Regenwürmer und andere Mikroorganismen haben genug Platz und Luft zum Leben und versorgen die Pflanzenwurzeln mit Nährstoffen. Am besten gelingt diese geschlossene Kreislaufwirtschaft mit Tieren in einer kleinbäuerlichen Struktur.
Derartige funktionierende Ökosysteme können neue, widerstandsfähige Pflanzen schaffen. Durch menschliche Selektion können sich jene vermehren, die sich am besten an Boden und Umwelt angepasst haben. So entstehen mit der Zeit Sorten, die gegen Dürre, Überschwemmungen, Salz, Hitze oder Kälte resistent sind.
Vaibhav Singh arbeitet als Biologe für Navdanya im südindischen Orissa. Er hat beobachtet, dass sich salzresistente Reispflanzen unten am Stiel rot färben. Sie besitzen ein Gen, das sie die gefürchteten Überflutungen aushalten lässt. Die Bäuerinnen und Bauern werden nächstes Jahr die Samen dieser Pflanzen säen.
Die Erfahrungen von Navdanya bestätigen, dass zum Saatgut viel Wissen gehört. Es verschwindet zusammen mit den alten Samen, wenn es nicht bewahrt und vermehrt wird. Scheinbar banale Praktiken werden aufgegeben, statt mit bewährten Methoden wird das Saatgut mit chemischen Dünger und Pestiziden behandelt. Um dem entgegenzuwirken, setzt Navdanya auf die Weiterbildung der Bäuerinnen und Bauern. Diese geht dabei über das Thema Saatgut hinaus: Ganz praktisch lernen sie, Kompost und Kuhdung einzusetzen, Tagetes und Zwiebel gegen Insekten zu pflanzen, natürlichen Pflanzenschutz aus Neemblättern herzustellen, verschiedenste Bestäuber mit Blumen anzulocken, die Felder zu terrassieren und mit Bambus zu begrenzen, um sie vor Überschwemmungen zu schützen.
Margit Fischer studiert Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Ihr Interesse für nachhaltige Landwirtschaft und lokale Wirtschaftskreisläufe hat sie bisher nach Indien und Brasilien geführt.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.