Recht wird vom Gesetzgeber gemacht und kann sehr unterschiedlich sein. Es gibt aber auch Normen, die allen Völkern gemeinsam sind. Mit der Verbreitung der Vorstellung von allgemein gültigen Menschenrechten setzt sich die Überzeugung durch, dass es so etwas wie der Natur innewohnende Gesetze gibt.
Recht ist nicht gleich Recht. Es gilt nicht überall für alle gleich, und nicht alles, was recht ist, wird auch als gerecht empfunden. Diese Erfahrung haben Österreicher und Österreicherinnen gemacht, die in Italien wegen Schnellfahrens zu drakonischen Geldstrafen verdonnert oder in Ungarn, wo die 0,0 Promille-Grenze gilt, nach dem Konsum von einem Viertel Wein oder einem Seidel Bier als gefährliche Alko-Fahrer abgestraft wurden. In einigen Ländern der EU hat man bei Strafe auch untertags das Abblendlicht einzuschalten, in anderen wird bestraft, wer bei Tag die Scheinwerfer grundlos aufdreht. Und über das Sexualstrafrecht einiger Bundesstaaten der USA kann man sich nur wundern. Vergleichsweise harmlos ist das alles, wenn man an die Schicksale von Reisenden denkt, die uns zumindest aus den Nachrichten bekannt sind. Da wird einer in Thailand wegen Verhöhnung des Königs zu jahrelanger Haft verurteilt oder in Singapur wegen Besitzes einer relativ geringen Menge von Drogen hingerichtet. Ganz zu schweigen vom in den Medien breit getretenen Fall der bulgarischen Krankenschwestern, die von libyschen Richtern wegen eines offensichtlich konstruierten Aids-Skandals zum Tode verurteilt wurden. All das kann man mit Gesetzen und Justizapparaten machen.
Beim Stichwort „unrechtes Recht“ müssen wir gar nicht an exotische Länder und finstere Despoten denken. Es ist erst zwei Generationen her, dass man bei uns wegen Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheiten enteignet, deportiert und getötet, wegen „Rassenschande“ drakonisch bestraft wurde oder ins KZ gesteckt werden konnte, wenn man sich beim Hören eines „Feindsenders“ erwischen ließ. Das NS-Regime war ursprünglich demokratisch legitimiert und lange Zeit von einer schweigenden Mehrheit getragen. Und noch vor weniger als 20 Jahren galt an der deutsch-deutschen Grenze der Schießbefehl, wenn DDR-Soldaten jemanden bei der „Republikflucht“ ertappten. Was Recht und Unrecht ist, wird oft erst von der Geschichte entschieden.
In der deutschen Rechtswissenschaft tobte im 19. Jahrhundert ein Schulenstreit zwischen den Positivisten und den Naturrechtlern. Während die Positivisten auf dem Standpunkt standen, was der Gesetzgeber als Recht festlegt, gilt und ist daher einzuhalten, vertraten die Anhänger der Naturrechtslehre die Meinung, es gebe Gesetze, die sich aus der Natur des Menschen oder einer Sache ableiten lassen und daher Allgemeingültigkeit besitzen. Moderne Gesetzeswerke wie das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, stellen einen Kompromiss zwischen den beiden Schulen dar. Angesichts des offensichtlichen Unrechtsgehalts der nationalsozialistischen Rassengesetze konnten die Rechtspositivisten nicht mehr argumentieren, jedes formal rechtmäßig zustande gekommene Gesetz sei einzuhalten. Nazi-Richter hatten sich ja nach dem Krieg darauf berufen, lediglich geltendes Recht angewandt zu haben. Pflichterfüllung heißt die Ausrede der Mitläufer.
Einem naturrechtlichen Verständnis entspringen die Menschenrechte, wie sie inzwischen von den Vereinten Nationen als universell gültige Prinzipien durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und eine Anzahl von Konventionen und Pakten etabliert wurden. Nationale Gesetzgebungen dürfen diesen Prinzipien nicht widersprechen. So konnten sich auch argentinische Soldaten nicht mit dem Gehorsam gegenüber ihren Vorgesetzten rechtfertigen, wenn sie sich während der Diktatur (1976-1983) schwerer Folter oder des Mordes schuldig gemacht hatten. Folgerichtig wurden – wenn auch erst zwei Jahrzehnte nach der Militärherrschaft – auch die Putschgeneräle vor Gericht gestellt. Mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes haben die Vereinten Nationen zuletzt eine Instanz geschaffen, die völkerrechtlich relevante Verbrechen ahnden kann, auch wenn der zuständige Staat dazu nicht in der Lage oder willens ist. Damit wird so etwas wie internationale Rechtssicherheit geschaffen.
Die meisten Staaten haben brauchbare, manche sogar hervorragende Gesetze, allerdings ist die Durchsetzung des Rechts nicht für alle gleich. Ein US-Botschafter in Honduras verglich in den 1990er Jahren die Justiz in diesem Land mit einer Schlange: „Sie beißt die Barfüßigen und flieht vor den Stiefeln.“ Armeeangehörige konnten damals sicher sein, dass sie auch für gemeine Verbrechen wie Mord und Vergewaltigung nicht zur Verantwortung gezogen würden. Ein armer Bauer konnte aber monatelang in Untersuchungshaft schmoren, bevor überhaupt geprüft wurde, ob an dem Vorwurf gegen ihn etwas dran war. Die Parabel gilt auch heute noch für zahlreiche Länder. In Brasilien, Südasien und manchen afrikanischen Staaten werden bis heute Menschen in Sklaverei gehalten, obwohl die Gesetze diese extremste Form der menschlichen Ausbeutung längst abgeschafft haben. GroßgrundbesitzerInnen behalten in Brasilien auch unter der Regierung des ehemaligen linken Gewerkschafters Lula da Silva vor Gericht immer noch die Oberhand gegenüber Kleinpächtern, Landlosen oder indianischen Gemeinschaften.
Manchmal verfügt der Staat nicht über die notwendigen Ressourcen oder das erforderliche Personal, um offensichtlich berechtigten Ansprüchen zum Durchbruch zu verhelfen. So ist in Guatemala rechtlich unbestritten, dass im Fall der Finca La Perla einige Generationen von Großgrundbesitzern ihr Land auf Kosten dreier indianischer Gemeinden widerrechtlich vervielfacht haben. Doch die Herstellung der Rechtmäßigkeit scheitert schon daran, dass staatliche Geometer, beim Versuch die strittige Liegenschaft zu vermessen, von Pistoleros der Landräuber vertrieben werden. Staatliche Funktionäre bekennen ihre Ohnmacht.
Auch darf die Trägheit der Apparate nicht unterschätzt werden. So bestätigte der argentinische Vizejustizminister in einem Interview die Gültigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, im Besonderen auch der indianischen Völker. Doch bis das bei der Judikatur der Provinzrichter ankomme, würden wohl Jahre vergehen. Mittlerweile lassen die Unternehmer das Buschland, das den letzten Nomadenvölkern Argentiniens als Lebensraum dient, abholzen und verwandeln es in profitable Plantagen für Soja oder Ölpalmen. Den kulturellen Genozid wird keine künftige Regierung rückgängig machen können.
In anderen Fällen ist es nicht die Trägheit, sondern schlichte Unfähigkeit und die institutionalisierte Korruption, die die Entwicklung zum Rechtsstaat verhindert. In Haiti mussten die Vereinten Nationen in den 1990er Jahren nach Jahrzehnten der Duvalier-Diktatur und Militärregimes einen komplett neuen Justizapparat aufbauen. Von den alten Richtern konnten nur wenige erfolgreich umgeschult werden, weil sie so fest im korrupten System verhaftet waren. Im Vielvölkerstaat Bosnien mussten jahrelang ausländische – auch österreichische – RichterInnen als Vertreter der internationalen Gemeinschaft Recht sprechen, weil die einheimischen JuristInnen in der Nachkriegsphase von Beschuldigten der jeweils anderen ethnischen Gruppe nicht akzeptiert worden wären.
Die Rechtssicherheit ist unvollkommen, wenn zwei oder mehrere Rechtssysteme nebeneinander bestehen. So dient die Militärgerichtsbarkeit oft nicht nur dazu, Verstöße gegen die heeresinternen Regeln zu ahnden, sondern Angehörige der Streitkräfte vor der Verfolgung durch zivile Strafgerichte zu schützen. Indigene oder traditionelle Rechte genießen in manchen Staaten einen Sonderstatus neben dem staatlichen Recht. Die Jurisdiktion beschränkt sich allerdings in der Regel auf die eigene Gemeinschaft.
Traditionelle Rechtsnormen können durchaus problematisch sein, etwa wenn sie im Widerspruch zu Menschenrechten stehen oder bestimmte gesellschaftliche Gruppen benachteiligen. So können in einigen Ländern nach traditionellem Recht Frauen kein Eigentum an Grund und Boden erwerben. Gerade der Zugang zu Land ist aber für die Entwicklung einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung.
Besonders heikel ist es, wenn religiöse Instanzen ins Spiel kommen. Die Heilige Inquisition ist Vergangenheit. Das kanonische Recht ist dank der Aufklärung heute nur mehr für Kleriker relevant. Und die müssen weder Folter noch Scheiterhaufen fürchten. Doch dem Islam ist die Trennung von Kirche und Staat fremd. Die Scharia – das aus dem Koran und islamischer Überlieferung abgeleitete Recht – wird im Iran, in den Feudalstaaten Saudi-Arabien und Oman, im Nordsudan, in Libyen und Pakistan angewandt. Die Taliban führten sie während ihrer Herrschaft in Afghanistan (1996-2001) ein. Dennoch ist die Scharia selbst in Staaten, die sich als islamisch definieren, wie Pakistan oder die schiitische Theokratie der Mullahs im Iran, nicht alleingültiges Recht. Vielmehr wird sie auch dort in einer Vermischung mit westlichen Rechtselementen angewandt.
In Nigeria steht die Scharia seit bald einem Jahrzehnt im Widerstreit zum westlichen Recht. Außerhalb des Landes erregte dieser Konflikt erstmals 2002 Aufsehen, als die Nigerianerin Safyiatu Hussaini von einem Scharia-Gericht zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde. Ihr Verbrechen: angeblicher Ehebruch. Nach westlicher Rechtsanschauung war Hussaini Opfer einer Vergewaltigung, nicht Täterin. Der Mann, der ihr Gewalt angetan hatte, ging straffrei aus. Ob es das Drängen westlicher Regierungen war, ein empörter Aufschrei der Weltöffentlichkeit oder die Weisheit der Richter zweiter Instanz: die vermeintliche Frevlerin wurde schließlich freigesprochen. Die nördlichen Staaten Nigerias hatten die Scharia bereits 1999 eingeführt. Unter der christlichen Minderheit der Region hatte der Beschluss von Ahmed Sani, Gouverneur des Bundesstaates Zamfara, der schnell von anderen muslimischen Gouverneuren der nördlichen Bundestaaten aufgegriffen wurde, längst Unruhe ausgelöst. Unter der muslimischen Bevölkerung fand er zwar breite, aber keineswegs ungeteilte Zustimmung. Insbesondere die drakonischen Körperstrafen lösten heftige Debatten aus.
Nach der Verfassung ist die nigerianische Justiz unabhängig, das Rechtssystem orientiert sich an jenem von Großbritanniens und dem der USA. Staat und Kirche sind strikt getrennt. Die Zentralregierung in Abuja missbilligt zwar die Einführung der Scharia in den zwölf nördlichen Bundesstaaten, sieht sich aber außerstande, die Verfassung durchzusetzen, wenn sie nicht einen Bürgerkrieg riskieren will. Die Bevölkerung besteht fast zu gleichen Teilen aus ChristInnen (49%) und MuslimInnen (46%). Die einen leben hauptsächlich im Süden, die anderen überwiegend im Norden. Tausende ChristInnen sind nach blutigen Zusammenstößen bereits in den Süden geflüchtet. Mehr als 5.000 Menschen kamen bei religiös motivierten Ausschreitungen in den letzten Jahren ums Leben. De facto bestehen zwei Rechtssysteme nebeneinander. Zwar wurde die Todesstrafe bisher nicht abgeschafft, doch haben die Höchstgerichte besonders grausame Urteile der Scharia-Gerichte wie Amputationen, öffentliche Auspeitschungen oder Steinigungen immer wieder aufgehoben.
Für strenggläubige Muslime ist die Scharia Ausdruck der vollkommenen Ordnung, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Da sie als Ordnung Gottes gilt, darf sie prinzipiell nicht durch menschliche Gesetze ersetzt werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihre Quellen, der Koran und Überlieferungen in den Auslegungen von frühislamischen Theologen und Juristen, mehr als tausend Jahre alt sind.
Zum Teil sind die Tatbestände und die Strafen mit den universell geltenden Menschenrechten unvereinbar. So widerspricht etwa die Todesstrafe für Abfall vom Glauben der Glaubens- und Religionsfreiheit. Ehebruch und Homosexualität, die nach unseren Vorstellungen in den unantastbaren Privatbereich und nicht vor Gericht gehören, werden auch in nichtislamischen Staaten noch verfolgt. Die dafür vorgesehenen Züchtigungen oder gar die Todesstrafe sind aber ebenfalls menschenrechtswidrig. Strafen für geringere Delikte liegen oft im Ermessen der Richter. Für manche Verbrechen gilt aber eine verbindlich vorgeschrieben Zahl von Peitschenhieben, Amputation von Gliedmaßen oder die Hinrichtung. Laizistische muslimische Staaten haben vorgezeigt, dass man als frommer Muslim auch leben kann, ohne die archaischen Regeln der Scharia anzuwenden. So wäre es Aufgabe der Regierungen und Zivilgesellschaften in den betroffenen Ländern, die Gesetze mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen.
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