Protest per Post

Von Marina Wetzlmaier · · 2024/Sep-Okt
© Wilhelmina Huang

Zur Zeit der Diktatur gründeten Taiwaner:innen im Ausland eine weltweit aktive Unabhängigkeitsbewegung. Ihre erste Versammlung fand vor 50 Jahren in Wien statt.

Politisch war Zun-Ho Wu seit erdenken kann. Schon in der Schule stand er der damals in Taiwan herrschenden Nationalpartei kritisch gegenüber. Laut aussprechen durfte er das in seiner Heimat jedoch nicht, erzählt er. Gegner:innen des Regimes wurden verhaftet oder hingerichtet. Tausende Taiwaner:innen flüchteten ins Ausland.

Wu kam 1964 als Student nach Wien. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Taiwan der „Weiße Terror“, wie die Taiwaner:innen die damalige Diktatur nennen. General Chiang Kai-shek und seine Nationalpartei Kuomintang (KMT) regierten seit 15 Jahren mittels Kriegsrecht. Ende der 1980er Jahre schaffte das Land den Übergang von einer blutigen Diktatur zur Demokratie. Bis heute ist die völkerrechtliche Stellung Taiwans mit seinen 23 Mio. Einwohner:innen umstritten.

Um einander im Alltag zu unterstützen und über Politik zu diskutieren, gründeten Taiwaner:innen im Exil Vereine. So entstand im Laufe der 1960er und 1970er Jahre eine weltweite Unabhängigkeitsbewegung der Auslandstaiwaner:innen. Ein wichtiger Meilenstein war die Gründung der World Federation of Taiwanese Associations (WFTA, Weltverband der Taiwanesischen Organisationen), die am 7. September 1974 in Wien stattfand.

Zum 50-Jahr-Jubiläum organisiert der Weltverband jetzt eine Ausstellung am Campus der Universität, auch ein Geburtstagsfest im September wird es geben.

Ersehnte Unabhängigkeit. Wu, heute 88 Jahre alt, half bei der Organisation der ersten Versammlung, zu der rund 160 Teilnehmende aus den USA, Kanada, Japan, Brasilien und europäischen Ländern, wie Deutschland, Frankreich und der Schweiz anreisten. Was sie einte, waren die gemeinsamen Forderungen nach Unabhängigkeit und politischer Selbstbestimmung Taiwans sowie nach einem Ende der Einparteienherrschaft der KMT. In ihrer Heimat galt das als Landesverrat, weshalb die Mitglieder in Taiwan auf der Schwarzen Liste standen. Rund zwanzig Studierende aus Taiwan lebten laut Wu damals in Wien. Mittlerweile zählt die taiwanische Community in Österreich etwa 3.000 Personen.

„Nicht alle Menschen aus Taiwan sind einer Organisation beigetreten. Wir waren in der Minderheit“, betont Wu. „Manche hatten Angst, dass sie nicht mehr nach Taiwan reisen durften. Andere waren keine ursprünglichen Taiwaner:innen, sondern Chines:innen, die zuvor vom Festland geflüchtet waren.“ Die komplexe Frage, wer Taiwaner:in sei und was die taiwanische Identität ausmache, beschäftigt die Gesellschaft bis heute. Denn Taiwan hat viele Phasen der Fremdbestimmung hinter sich, die sich in Wus Familiengeschichte widerspiegeln (siehe Timeline). Seine Eltern wuchsen während der japanischen Kolonialzeit auf und lernten in der Schule japanische Traditionen. In seinen ersten beiden Volksschuljahren lernte auch Wu Japanisch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel Taiwan unter die Verwaltung der KMT aus Festland-China. Plötzlich war die Unterrichtssprache Chinesisch. Taiwanische Sprachen waren in der Schule verboten. Diese nutzte Wus Familie nur Zuhause. Das KMT-Regime entpuppte sich als „repressiv, inkompetent und korrupt“, schreibt der Sinologe Gunter Schubert in seinem Buch „Kleine Geschichte Taiwans“. Die KMT-Beamt:innen besetzten alle wichtigen Positionen in Politik und Verwaltung und gestanden den Einheimischen nur schlechter gestellte Berufe zu: „Mein Vater war früher als Handelsvertreter tätig. Unter der Kuomintang durfte er nur mehr als Briefträger arbeiten“, erinnert sich Wu.

Widerstand auf A4. „Einigen Taiwaner:innen wurde die politische Situation erst so richtig bewusst, als sie im Ausland waren“, sagt Wilhelmina Huang, Obfrau der Vereinigung der Taiwaner:innen in Österreich. Huang ist 1987 in Wien geboren, verbrachte ihre Schulzeit in Taiwan und wohnt seit ihrem 18. Lebensjahr wieder in Österreich. Eine wichtige Aufgabe der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland bestand darin, über die Geschehnisse in der Heimat zu informieren. Huang holt einen Stapel Zeitschriften aus ihrer Tasche. Die ältesten Ausgaben stammen aus dem Jahr 1973. Gegründet wurde diese Zeitung von Taiwaner:innen in Belgien. „Sie versteckten einzelne Exemplare in Büchern und schickten sie an die Vertretungen in anderen Ländern. Dort kopierte man die Zeitschriften und verteilte sie an die Mitglieder.“ So erfuhren die Auslandstaiwaner:innen von politischen Ereignissen, aber auch unterhaltsame Texte, Comics und Gedichte gab es zu lesen. Die ersten Ausgaben wurden per Hand verfasst. „Später kaufte man eine chinesische Schreibmaschine. Sie ist fast 30 Kilo schwer und steht jetzt bei mir zuhause“, berichtet Huang.

Die Schreibmaschine und die Zeitschriften sind Teil der Ausstellung. Dass sich der WFTA erstmals in einem Kloster in Hietzing traf, war laut Wu eine glückliche Fügung. Der Kontakt kam durch einen chinesischen Priester zustande, der in Wien lebte. Seit der ersten Konferenz in Wien treffen sich die Mitglieder der WFTA jedes Jahr. Zun-Ho Wu reiste dafür um die ganze Welt: von Japan, Brasilien und Costa Rica bis nach Australien.

Veränderte Rolle. „Das Engagement der Auslandstaiwaner:innen war wichtig, um die demokratische Bewegung im Inland zu unterstützen“, sagt Huang. Die Rolle des Weltverbandes hat sich nach der demokratischen Wende ab Ende der 1980er verändert. Taiwan wird international zwar nicht als Staat anerkannt, gilt aber de facto als souverän. Die heutigen Mitglieder der WFTA verstehen sich als Vertreter:innen eines unabhängigen Taiwan. Sie unterstützen bei den Wahlen die Kandidat:innen der Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) und suchen den Austausch mit demokratischen Kräften in anderen Ländern. Was die Mitglieder sowohl vor 50 Jahren als auch heute bewegt, ist die Frage, wie sie Taiwans Zukunft mitgestalten können.

Marina Wetzlmaier ist freie Journalistin und lebt in Wels/Oberösterreich.

Taiwans Ringen um Unabhängigkeit

17. bis 19. Jhdt
Europäische Kolonial-herrschaft, v. a. der Niederlande. Eroberung durch das chinesische Kaiserreich. Nach Ende des chinesisch-japanischen Kriegs 1894/95: Abtretung an Japan.

1912
Auf dem chinesischen Festland wird die Republik China ausgerufen. Ihr Staatsgebiet umfasst bis 1949 ganz China.

1945
25. Oktober: Taiwan fällt nach Kriegskapitulation Japans an die Republik China, dessen Führung (Kuomintang) auf dem Festland in den Bürgerkrieg verwickelt ist.

1949
Die nationalchinesische Kuomintang unter General Chiang Kai-shek verliert im chinesischen Bürgerkrieg gegen die kommunistische Volksbefreiungsarmee und zieht sich nach Taiwan zurück.

1971
Republik China (mit Sitz in Taiwan) verliert ihre Stimme in der UNO, die stattdessen an die kommunistische Regierung der Volksrepublik China geht.

1987
Juli: Aufhebung des Kriegsrechts. Ein Jahr davor wurde die erste taiwanische Oppositionspartei, die Demokratische Fortschrittspartei (DFP) gegründet.

1992
„Konsensus von 1992“: VR China und Vertreter:innen der KMT bekennen sich dazu Teil eines gemeinsamen Chinas zu sein, interpretieren aber unterschiedlich wer dieses „eine China“ repräsentiert.

1996
Erste freie Präsidentschaftswahlen. Kultur und Sprache der taiwanischen Ureinwohner:innen erleben Renaissance.

2000
Erster demokratischer Machtwechsel: Chen Shui-bian (DFP) wird im März zum neuen Präsidenten gewählt.

2024
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jänner: William Lai von der DFP wird Präsident, im Parlament hat die DFP jedoch keine Mehrheit.

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