Die Art der Mobilität entscheidet über die Art der Begegnungen, sagt der Weltenwanderer Gregor Sieböck. Er geht am liebsten zu Fuß. Dabei erreicht er viel mehr, als nur am Ziel anzukommen, erklärte er Südwind-Redakteurin Michaela Krimmer.
Südwind Magazin: Wie bist zum Gehen gekommen?
Gregor Sieböck: Ich wollte das Thema der Zerstörung der Umwelt anhand des ökologischen Fußabdrucks, den wir alle hinterlassen, in die Medien bringen. Das war schwierig. Ich musste etwas vollkommen Verrücktes machen: Ich bin drei Jahre lang zu Fuß um die Welt gegangen. Plötzlich waren die Medien interessiert. Ich habe das zu Fuß Gehen als Symbol gewählt und selbst überall Fußabdrücke hinterlassen, um auf die voranschreitende Umweltzerstörung aufmerksam zu machen. Gleichzeitig ist Gehen eine wunderbare Möglichkeit, die Welt und sich selbst kennenzulernen.
Bringt zu Fuß gehen die Welt ins Gleichgewicht?
Es bringt zu allererst mich ins Gleichgewicht. Und das bringt die Welt auch schon ein wenig mehr ins Gleichgewicht. Die Indianer Nordamerikas sagen: „Die Seele eines Menschen kann nur so schnell reisen, wie ihn seine Füße tragen.“ Das Paradoxe unserer Zeit ist, dass alles immer schneller gehen muss. Und wir glauben, dass wir durch Beschleunigung mithalten können. In dieser Beschleunigung muss man sich Oasen schaffen, in denen man Zeit hat, um zu reflektieren, wohin es geht. Beim Gehen findet man wieder Zeit und zu sich selbst.
Wo warst du unterwegs?
Ich bin von Österreich durch Europa, die USA und Lateinamerika nach Japan gegangen. Mir hat der Gedanke gefallen, in die „falsche Richtung“ zu gehen. Japan liegt im Osten und ich bin nach Westen gegangen. Einstein hat gesagt, wir können nicht unsere Probleme mit den gleichen Lösungen lösen, die zu den Problemen geführt haben. Es gilt neue Wege zu gehen. Der Weg nach Japan über Westen war symbolisch ein neuer Weg.
Kann man seine alltägliche Mobilität nur durch Gehen abdecken?
Es gibt viele Verkehrsmöglichkeiten und jeder soll die herausfinden, die für ihn am besten passt. Ich habe nie den Führerschein gemacht, da ich im Sinne Gandhis bei mir selbst anfangen wollte, im Einklang mit der Erde zu leben. Das hat mein Leben verändert, weil es meine Mobilität verändert hat. Ich komme so weit in der Welt herum, gerade weil ich kein Auto habe. Viele Menschen verbringen Monate des Arbeitsjahres damit, ihr Auto zu finanzieren. Laut Forschungen ist die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autos, wenn man die Zeit mit einrechnet, die man für die Finanzierung des Autos arbeitet, sieben km/h. So schnell bin ich zu Fuß auch.
Wie nehmen dich die Menschen auf, wenn du in Europa, Asien oder Lateinamerika wanderst?
Wenn ich in ein Dorf oder eine Stadt komme mit meinem großen Rucksack, auf dem tibetische Gebetsfahnen wehen und ein Glöckchen hängt, spricht mich meist gleich jemand an. Oft ladet mich jemand auf einen Tee ein, wir sprechen, teilen Geschichten und irgendwann rolle ich den Schlafsack in der Küche aus und übernachte dort. Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, habe ich mehr Kontakt zu den Einheimischen und zu anderen schrägen Vögeln wie mir. Allein durch die Wahl der Mobilität habe ich andere Begegnungen. Als ich durch Los Angeles gegangen bin, hatte ich sehr viel Kontakt zu den Obdachlosen. Dann kam ich durch ein besseres Viertel, ein Banker blieb stehen und fragte, was ich mache. Er erzählte mir, dass er schon lange überlege, aus seinem Job auszusteigen und wir gingen einen Kaffee trinken. Innerhalb kürzester Zeit habe ich den Übergang zwischen den Milieus geschafft. Plötzlich bin ich überall zu Hause, auch in den unterschiedlichsten Milieus.
Gibt es auch kulturelle Unterschiede, wie die Menschen auf dich reagieren?
Auf jeden Fall! Die USA sind ein Land, das für die Autos und nicht mehr für die Menschen gebaut worden ist. Wenn du das nicht respektierst, bist du außerhalb des Systems. Ich hatte dort jeden Tag Kontakt mit der Polizei. In Lateinamerika ist das anders: Die Menschen gehen dort noch zu Fuß. Da hatte ich nie Kontakt zur Polizei. Trotzdem gibt es dort auch Unterschiede, beispielsweise zwischen den Nachbarländern Peru und Ecuador. In Peru gehen die Menschen noch zu Fuß. Wenn ich nach dem Weg fragte, konnten sie mir Auskunft geben. In Ecuador haben sie oft geantwortet, dass man zu einem gewissen Ort nie zu Fuß hinkommen könnte.
Auch Japan war speziell. Zu Fuß durch Tokio war ein Schockerlebnis. Mit einem Rucksack und einem Wanderstock fällt man dort sofort auf. Doch die Menschen waren sehr herzlich und sprachen mich an. Ich gehe außerdem gerne mit einem Regenschirm. Wenn es trocken ist, ist er mein Wanderstock. Und wenn es regnet, spanne ich ihn auf. In Neuseeland haben mich die Leute ausgelacht, als sie das gesehen haben: mit aufgespanntem Regenschirm wandern. Dort war immer der Schirm das zentrale Thema, woanders überhaupt nicht.
Wenn du in Europa mit einem Wanderstock unterwegs bist, dann halten Dich alle sofort für einen Jakobswegpilger.
Begleitet dich jemand beim Wandern?
Auf meiner ersten Tour war ich viel allein. Im Augenblick bin ich in Europa mit den Wegkreuzungstouren unterwegs – oft in einer kleinen Gruppe. Das sind Wanderungen, bei denen es kein fixes Ziel gibt. Der Weg entsteht im Gehen. Wir haben keine Landkarten mit, gehen querfeldein, entscheiden in der Früh, in welche Himmelsrichtung wir gehen, an Wegkreuzungen entscheiden wir intuitiv.
Gemeinsames Wandern ist sehr lehrreich. Im Sommer habe ich eine 25-köpfige Gruppe geleitet. Wir sind am Anfang eine Zeit lang am Fluss Kamp gesessen. Manche haben sich gleich hingesetzt und sind eins geworden mit der Erde, andere sind nervös geworden, weil es plötzlich keinen Zeitplan mehr gab. Am nächsten Tag sind wir schweigend den Kamp entlang gegangen. Dadurch ist jeder in den eigenen Rhythmus gefallen. Solange wir miteinander gesprochen haben, waren wir als Gruppe unterwegs und sobald wir geschwiegen haben, hat sich die Gruppe auseinander gezogen. Nach einer Zeit konnte jeder sein Herz öffnen. Am Ende der Wanderung hatte die Hälfte der Leute Tränen in den Augen. Wir haben jetzt noch Kontakt und schreiben einander. Für manche war das der schönste Urlaub ihres Lebens. Eine andere Frau geht seitdem jeden Tag eine halbe Stunde zur Arbeit zu Fuß und wieder zurück. Das ist eine Stunde am Tag, die nur ihr gehört.
Was musst du unbedingt mithaben auf einer Wanderung?
Das hängt davon ab, wo ich unterwegs bin. In der Wildnis von Patagonien braucht man von Regenausrüstung bis Sommerequipment alles, weil das Wetter so wechselhaft ist. Wenn ich im Sommer in Österreich unterwegs bin, gehe ich mit einem kleinen Rucksack. Dadurch entsteht eine unglaubliche Leichtigkeit. Dieser Rucksack ist ein Symbol für den Rucksack, den ich auch in meinem Leben trage. Diese Leichtigkeit möchte ich auch in mein Leben mitnehmen. Dadurch habe ich mich entschieden, dass ich über die Lebensfreude wachsen will und nicht über das Leid.
Gregor Sieböck berichtete 2004 und 2005 als „Weltenwanderer“ in einer Kolumne im Südwind-Magazin von seiner Weltumwanderung.
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