Unsere Welt ist voll von Petrochemikalien. Angefangen vom Plastik bis hin zu Pestiziden sind sie aus dem modernen Leben nicht wegzudenken. Aber den Preis für die Freisetzung aller dieser gefährlichen Stoffe zahlen wir alle, wie New Internationalist-Redakteur Wayne Ellwood zeigt.
Der Friedhof der Chippewa First Nation of Aamjiwnaang liegt am Rande von Sarnia, einer kleinen Stadt im Süden des kanadischen Bundesstaats Ontario. Ron Plain, der mich hierher geführt hat, zeigt mir die Gräber seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, seiner Tanten und Onkeln. Ron ist 46, glaubt aber nicht, dass er älter als 60 wird. Radiokohlenstoffdatierungen zeigen, dass seine Vorfahren seit 6.000 Jahren in diesem Gebiet gelebt haben. Es ist Frühlingsbeginn, ein warmer Tag, die Bäume beginnen auszuschlagen. Nichts jedoch kann die petrochemische Fabrik verbergen, die sich drohend neben dem Friedhof erhebt. Das Aamjiwnaang-Reservat ist von dutzenden Chemiewerken buchstäblich umzingelt.
Rons Gemeinschaft mit ihren 900 Angehörigen lebt im Herzen des "Chemical Valley", der stärksten Konzentration der petrochemischen Industrie in ganz Kanada. In einem Umkreis von 25 Kilometern befinden sich 62 Werke, 40 Prozent aller petrochemischen Fabriken des Landes. Zu ihren Eigentümern gehören die größten und mächtigsten Konzerne der Welt – Dow, Shell, Nova, Bayer und Imperial Oil (Exxon) produzieren in einem Umkreis von fünf Kilometern, die meisten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.
2005 bliesen diese Fabriken mehr als 131.000 Tonnen an Schadstoffen in die Atmosphäre – 1.800 kg Gift pro Einwohner. (1) Diese Belastung mit giftigen Chemikalien dürfte für eine ganze Reihe ernsthafter Gesundheitsprobleme der Aamjiwnaang und der Menschen in Sarnia verantwortlich sein: Krebs, Nieren- und Schilddrüsenbeschwerden sind weit verbreitet, wie die Sarnia Occupation Health Clinic 2004/2005 erhob. Asthma ist allgegenwärtig (40 Prozent der Menschen im Reservat verwenden einen Inhalator), und 23 Prozent der Kinder zwischen 5 und 16 leiden an Lern- und Verhaltensstörungen.
Zwei Ergebnisse der Studie waren jedoch besonders beunruhigend und lösten weltweite Aufmerksamkeit aus: Eine ungewöhnlich hohe Fehlgeburtenrate – 39 Prozent der Frauen im Reservat hatten eine Fehl- oder Totgeburt – sowie eine signifikante Verschiebung des Geschlechterverhältnisses bei Lebendgeburten. Seit Ende der 1990er Jahre begann der Anteil der im Reservat geborenen Buben zu fallen – auf weniger als 35 Prozent anstatt der üblichen 50 Prozent. Niemand weiß genau, warum. Der Hauptverdacht konzentriert sich jedoch auf Schadstoffe, die eine Geschlechtsveränderung bewirken können.
Schon Anfang der 1990er Jahre hatten Forschungsarbeiten von Pionieren wie Theo Colborn gezeigt, dass synthetische Chemikalien, die in den letzten 50 Jahren in großen Mengen in die Umwelt gelangten, wie natürliche Hormone wirken, die sexuelle und neurologische Entwicklung beeinflussen und die Fruchtbarkeit beeinträchtigen können. Dutzende Studien haben die Auswirkung so genannter endokriner Disruptoren (endokrin-wirksame Substanzen, EDC) auf Tiere wie Frösche, Fische und Vögel mit missgebildeten Genitalien, Gehirnschäden, Krebs und geschädigten Geschlechtsorganen dokumentiert. EDC wurden auch mit sinkenden Testosteronspiegeln bei Männern und einem Rückgang männlicher Geburten in Gebieten mit einer hohen Konzentration von Chemiefabriken in Verbindung gebracht. Viele der Tierstudien wurden in der Region der Großen Seen durchgeführt, wo sich die umweltschädliche Schwerindustrie von Anfang an ansiedelte. Dort liegt auch das Aamjiwnaang-Reservat.
Rachel Carson, deren 1962 erschienenes Buch "Silent Spring"(2) als Ausgangspunkt der US-Umweltbewegung gilt, wäre über die Entwicklungen in Aamjiwnaang empört gewesen, aber nicht überrascht. "So ist der chemische Krieg niemals gewonnen, und in seinem heftigen Kreuzfeuer bleibt alles Leben auf der Strecke", schrieb sie damals. Carson war es auch, die den Begriff "Ökologie" für die komplexe Vernetzung zwischen menschlichem Leben und natürlicher Umwelt einführte.
Ihre Warnungen vor der Giftigkeit der Industriegesellschaft waren prophetisch. Immer mehr Indizien weisen darauf hin, dass die Millionen Tonnen chemischer Substanzen, die in die Umwelt freigesetzt werden, in die Grundlagen des Lebens eingreifen. Die männliche Fruchtbarkeit in den reichen Ländern ist seit 1940 um geschätzte 50 Prozent zurückgegangen; Brustkrebs, Hodenkrebs und Prostatakrebs haben um 200 bis 300 Prozent zugenommen. Immer mehr männliche Babys kommen mit Missbildungen der Genitalien zur Welt. (3)
Wir leben in einem Eintopf giftiger Chemikalien, die es vor der Geburt der modernen synthetischen Chemie im Schmelztiegel des Zweiten Weltkriegs größtenteils noch gar nicht gab. Geschätzte 80.000 Substanzen werden heute industriell hergestellt, und jedes Jahr kommen hunderte dazu. Wenige wurden auf ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt geprüft. Und vor allem gibt es kaum Wissen darüber, wie sich die Wechselwirkung der Chemikalien untereinander auswirkt. In der Europäischen Union wurden schätzungsweise zwei Drittel der 30.000 am häufigsten verwendeten Chemikalien nie geprüft. (4)
Bei genauen Analysen in Europa, Kanada und den USA wurden hunderte gefährliche Chemikalien im Blut und Urin von Menschen mit gewöhnlichem Belastungsrisiko gefunden. Der Worldwide Fund for Nature (WWF) testete in Europa drei Generationen von Frauen und fand alles Mögliche – von verbotenen Pestiziden wie DDT bis zu tödlichen PCB (polychlorierte Biphenyle). In den Nabelschnüren von zehn Babys in den USA, die die Environmental Working Group 2005 testen ließ, entdeckten Wissenschaftler mehr als 280 Chemikalien. Greenpeace lieferte ähnliche Zahlen für Europa.(5)
Bei einer kanadischen Studie wiesen Kinder eine geringere Belastung mit PCB und chlororganischen Pestiziden auf als ihre Eltern – ein Hinweis, dass behördliches Eingreifen hilft, denn die meisten dieser Substanzen wurden vor ihrer Geburt verboten. Es ergab sich aber eine höhere Belastung der Kinder mit Stoffen, die noch verwendet werden, darunter perfluorierte Verbindungen (verwendet z.B. als Schmutz- und Wasserabweiser in Bekleidung und Möbeln oder für nicht-haftende Beschichtungen für Kochgeschirr) und PBDE (polybromierte Diphenylether – Flammschutzmittel).(6)
Viele dieser Substanzen stammen aus der Petrochemie und stehen mit Produkten in Verbindung, die unser Alltagsleben erobern: Lösungsmittel, Waschmittel, Kosmetika, Herbizide, Pestizide – Kunststoffe. So auch die Schlussfolgerung des Commonwealth Biomonitoring Resource Center in seiner jüngsten Studie zu chemischer Kontamination: "Ein Großteil unseres Risikos könnte auf Produkte zurückzuführen sein, die wir für sicher gehalten haben."(7)
Zuletzt galt die Sorge den Kunststoffen, dem vielleicht allgegenwärtigsten Material der heutigen Zeit. Die Ausbreitung der Kunststoffe hat die Welt mit potenziell tödlichen Chemikalien übersät. Eine der wirkungsstärksten ist Bisphenol A (BPA), das Lebenselixier der Kunststoffindustrie. Fast drei Millionen Tonnen davon werden jedes Jahr produziert. BPA wird bei der Herstellung von Polycarbonat-Kunststoff eingesetzt, einem steifen, harten Plastik, das praktisch für alles verwendet wird, von Babyfläschchen und Sporttrinkflaschen über CDs, DVDs und Zahnfüllungen bis zu Beschichtungen von Nahrungsmittel- und Getränkebehältern. Behälter aus – durchsichtigem oder farbigem – Polycarbonat sind in der Regel am Boden mit der Zahl "7" gekennzeichnet. Das Problem mit BPA besteht in seiner Flüchtigkeit. Wenn der Kunststoff altert oder Flüssigkeiten in BPA-Behältern aufbewahrt oder erhitzt werden, wandert BPA in unsere Körper. 2005 fand die US-Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta BPA im Urin von 95 Prozent der untersuchten US-AmerikanerInnen. Im November 2006 warnten 38 führende wissenschaftliche BPA-ExpertInnen vor "potenziell negativen Gesundheitseffekten" eines Kontakts mit Polycarbonat-Kunststoff.
Dass BPA im Organismus wie Östrogen wirken kann, wurde erstmals 1936 erkannt. Hunderte von Tierstudien zeigten, dass niedrige Dosen von BPA eine Reihe gesundheitlicher Probleme beim Menschen bewirken könnten, von Missbildungen von Geschlechtsorganen über Brust- und Prostatakrebs bis zu spontanen Fehlgeburten, Typ-2-Diabetes und Adipositas (Fettsucht). Ein Nachweis liegt jedoch nicht vor, wie Frederick vom Saal von der Universität von Missouri einräumt, einer der führenden BPA-Experten. "Wir wissen es nicht mit Sicherheit … einige dieser Trends sind so verbreitet, dass sie beinahe normal erscheinen: ungewöhnliche Pubertätsveränderungen, Fruchtbarkeitsprobleme sowohl bei Männern als auch Frauen, Brustkrebs, Prostatakrebs. Alle diese Trends fallen mit dem Beginn der Kunststoffrevolution zusammen … Zum Teil geht es bloß darum, die Dinge in Zusammenhang zu sehen."
Obwohl die Industrie die Gefährlichkeit von BPA weiterhin bestreitet, beginnt sich das Blatt zu wenden. VertreterInnen der Branche wischten Kritik mit dem Argument beiseite, die in Menschen festgestellten Mengen seien zu gering, um von Bedeutung zu sein. Tatsächlich haben ForscherInnen jedoch herausgefunden, dass endokrine Disruptoren in geringen Mengen gefährlicher sind – eine Umkehrung der traditionellen Ansicht der Pharmakologie, die Menge mache das Gift. "In niedrigen Dosierungen stimulieren Hormone ihre eigenen Rezeptoren", erklärt vom Saal. "In höheren Dosierungen blockieren sie diese Reaktionen." (8)
Im April 2008 erließ Kanada Grenzwerte für BPA und klassifizierte die Chemikalie als "gefährliche Substanz". Babyfläschchen aus Polycarbonat wurden verboten, für die Migration von BPA in den Inhalt von Babynahrungsbehältern strikte Obergrenzen eingeführt. Binnen Tagen warfen bedeutende BPA-Hersteller das Handtuch, darunter Wal-Mart, Toys R Us und Playtex.
BPA ist eine von hunderten synthetischen Chemikalien, die das Verhalten von Genen beeinflussen – "Gene hijacking" sagt der Autor Pete Myers dazu. (9) Die selben geschlechtsverändernden Eigenschaften weisen auch andere Kunststoffzusätze wie Phthalate und die bereits erwähnten PBDE auf. Phthalate sind ein unverzichtbarer Bestandteil von PVC, einem der gebräuchlichsten Kunststoffe überhaupt. Sie dienen dazu, das Vinyl weich und biegsam zu machen. Es gibt sie in tausenden Produkten, vom Kinderspielzeug über Duschvorhänge bis hin zu medizinischen Schläuchen. Die Chemikalie wird auch für Körperpflegeprodukte wie Shampoos, Seifen, Parfüms und für Beschichtungen von Tabletten verwendet. Die EU hat Phthalate in Kinderspielzeug verboten, Kalifornien mittlerweile ebenfalls.
Die PBDE (Flammschutzmittel) repräsentieren die dritte größere Gruppe giftiger Kunststoffe. Zur Hälfte werden sie für die Gehäuse elektronischer Geräte verwendet – Computer, Mobiltelefone, Drucker, Fernsehgeräte etc. PBDE sind sowohl persistent – d.h., sie verbleiben lange in der Umwelt, ohne zu zerfallen – und bioakkumulativ, d.h. sie reichern sich über die Nahrungsmittelkette in Tieren und Menschen an. Sie überwinden auch problemlos die Plazentaschranke, die mütterliches und kindliches Blut voneinander trennt. Sie können als endokrine Disruptoren wirken, das Gehirn von Kindern schädigen und Lern- und Gedächtnisstörungen hervorrufen. Sie wurden auch mit Fehlfunktionen der Schilddrüse, Unfruchtbarkeit und erhöhtem Hodenkrebsrisiko in Verbindung gebracht. Menschen in Nordamerika haben bis zu 40-mal höhere PBDE-Konzentrationen im Blut als Menschen in Europa oder Japan.
"Diese Verbindungen haben die selben Eigenschaften wie PCB und DDT", betont Ake Bergman, Leiter der Abteilung Umweltchemie an der Universität Stockholm. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu Vergiftungen kommt. Als PCB verboten wurden, wussten wir weniger über sie als heute über PBDE … Haben wir aus den PCB nichts gelernt?" (10) Die nachweislich krebsauslösenden PCB wurden in den 1970er Jahren verboten. Als bioakkumulative Substanzen findet man sie aber nach wie vor in der Umwelt und in Tieren und Menschen.
Schweden war eines der Länder, die sich besonders für das dem gesunden Menschenverstand entsprechende "Vorsorgeprinzip" einsetzten, das aber von der Chemieindustrie mit ihrem engstirnigen Streben nach Profit und Wachstum bis aufs Messer bekämpft wurde. Die Idee ist einfach: Wenn eine Chemikalie eventuell Probleme verursachen könnte, dann sollte man es sich gut überlegen, ob man sie verwendet. Lieber auf Nummer Sicher gehen, auch wenn keine wissenschaftliche Klarheit besteht. Die Chemieindustrie (und die Ölkonzerne) argumentieren anders: Erst wenn jemand daran stirbt, sollten wir etwas tun. Die Umweltschutzbehörde der USA (EPA) genehmigt jedes Jahr 700 neue Chemikalien auf Basis der Versicherungen der Industrie, sei seien sicher.
Mittlerweile nimmt aber die Besorgnis der Öffentlichkeit über die Giftbrühe zu, die sich um uns zusammenbraut. Im Juni 2007 trat die neue "REACH"-Verordnung der EU in Kraft (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien), trotz intensivstem Lobbying seitens der Industrie (besonders der deutschen Chemieindustrie) und der US-Regierung. Es handelt sich um einen Kompromiss: Unternehmen haben ab Inkrafttreten je nach Jahresproduktionsmenge bis zu elf Jahre Zeit, den Nachweis der Sicherheit zu erbringen, und für Chemikalien mit einer Jahresproduktionsmenge unter zehn Tonnen sind keine so genannten "Stoffsicherheitsberichte" erforderlich. Doch der Grundsatz der Verantwortlichkeit der Hersteller wurde fest verankert. Unternehmen können nun keine Chemikalie mehr verkaufen, ohne zuvor Informationen über ihre Sicherheit bereitzustellen – ein bedeutender Durchbruch, der sich weltweit auswirken sollte.
Copyright New Internationalist
1) Studie der Umwelt-NGO Ecojustice:
E. MacDonald, S. Rang, "Exposing Canada's
Chemical Valley", Toronto, Oktober 2007 (www.ecojustice.ca)
2) Deutsche Fassung "Der stumme Frühling", erstmals erschienen 1963 im Biederstein Verlag
3) Robert Allen, The Dioxin War, Pluto Press, London 2004
4) Mark Schapiro, Exposed: the toxic chemistry of everyday products, Chelsea Green, White River Junction, Vermont 2007
5) Libby McDonald, The Toxic Sandbox, Penguin, New York 2007
6) Pollution in Canadian Families, Environmental Defence, Toronto, Juni 2006 (www.toxicnation.ca)
7) Commonwealth Biomonitoring Resource Center: "Is it in us? Chemical Contamination in Our Bodies", Bolinas, California, 2007 (www.isitinus.com)
8) Martin Mittelstaedt, "Inherently toxic chemical faces its future", Globe & Mail, 8. April 2007
9) Pete Myers, "Good genes gone bad",
American Prospect, April 2006
10) Maria Cone, "Cause for alarm over chemicals", Los Angeles Times, 20. April 2003
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