Orientierungskrise und Neubeginn

Von Marc Diebäcker · · 1999/01

Geänderte Rahmenbedingungen haben die Dritte-Welt-Bewegung wohl geschwächt, doch von einer Auflösung kann keine Rede sein. Im Gegenteil: viele Gruppen erarbeiten neue Themenfelder und neue Aktionsformen.

Fast durchgängig – sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in Reflexionen von Aktiven – ist von einer Mobilisierungsschwäche die Rede. Während Aktive sinkende Bereitschaft zur Mitarbeit und zurückgehendes Spendenaufkommen beklagen, diagnostizieren WissenschaftlerInnen die Institutionalisierung der Bewegung anhand der sprunghaft angestiegenen Zahl von entwicklungspolitischen Nichtregierungs-Organisationen (NROs).

Ein generelles Problem bei der Betrachtung der Dritte-Welt-Bewegung ist die Orientierung an zentralen Ereignissen oder populären Gruppierungen, die Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erzeugt haben. Dieses Phänomen findet sich auch in der sehr spärlichen wissenschaftlichen Literatur wieder, die der Bewegung oft eine politisch-ideologische Homogenität unterstellt. Die zahlreichen Gruppen unterscheiden sich jedoch stark hinsichtlich ihrer Zielvorstellungen, ihres Aktionsrepertoires und ihrer Organisationsstruktur und sind in hohem Maße durch ihren lokalen Lebensbereich bestimmt.

Die Ursprünge der europäischen Dritte-Welt-Bewegung liegen bereits in den sechziger Jahren mit den Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg. Stark antikapitalistische Deutungsmuster standen im Vordergrund, und glorifizierte Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt wurden als Ausgangspunkt für eine sozialistische Revolution sowie die Abschaffung des Kapitalismus in den westlichen Industrieländern angesehen.

Die sich im darauffolgenden Jahrzehnt herausbildende Dritte-Welt-Bewegung war nicht mehr von einer weltumspannenden revolutionären Utopie geprägt. Breitere Themenvielfalt, wobei man sich auch zunehmend mit nationaler Entwicklungspolitik auseinandersetze, war die Folge. In den achtziger Jahren konnten sich einige Bewegungen zunehmend wirksamer in der Öffentlichkeit entfalten. Dabei zielte die Kritik auf Menschenrechtsverletzungen diktatorischer Regime wie in Südafrika, Namibia oder Chile und war teilweise mit der Solidarisierung mit nationalen Befreiungsbewegungen verbunden.

Ende der achtziger Jahre fielen zahlreiche Gruppen der Bewegung in eine tiefe Orientierungskrise, da mehr und mehr Aktive die Veränderung ihres eigenen Gegenstandsbereichs, der Dritten Welt, wahrnahmen. Spätestens mit dem Umbruch in Osteuropa konnten sich viele Mitglieder den komplexen und sehr unterschiedlichen Bedingungen für Unterentwicklung nicht mehr verschließen. Sie vollzogen allmählich die Abkehr von der Allgemeingültigkeit der Dependenztheorie und folgten damit nur dem Eingeständnis der Entwicklungstheoretiker vom „Scheitern der großen Theorien“. Darüber hinaus gingen manchen populären Bewegungen die Identifikationsobjekte verloren wie mit der Wahlniederlage der Sandinisten in Nicaragua oder dem Ende des Arpartheid-Regimes in Südafrika.

Zahlreiche Gruppen fanden sich mit den völlig veränderten Rahmenbedingungen nicht zurecht und lösten sich auf. Andere verweigerten die Auseinandersetzung mit der Realität, indem sie sich in ihre Projektarbeit flüchteten und damit in einen Teufelskreis aus sinkender Öffentlichkeitsarbeit, geringerem Spendenaufkommen sowie reduzierter Projektunterstützung gerieten.

Trotz dieser Schwächung kann von einer generellen Auflösung der Bewegung nicht die Rede sein, denn andere Initiativen zeigten, daß sie der „neuen“ Realität durchaus gewachsen waren. Mit der Konzentration auf den lokalen Nahbereich gelang es vielen Aktiven, Nord-Süd-Fragen bürgernah zu thematisieren. Insbesondere die Flüchtlingsarbeit entpuppte sich als geeignetes Arbeitsfeld, „klassische“ Schwerpunkte wie wirtschaftliche Abhängigkeitsstrukturen und Menschenrechte zu verdeutlichen.

Der „Faire Handel“ konnte sich endlich außerhalb der „Szene“ etablieren, und auch die Diskussion um weltweite Sozialstandards deutet auf eine neue Substanz und inhaltliche Streitkultur der Bewegung hin.

Der in der Dritte-Welt-Szene vollzogene Wechsel vom politischen Protest zum politischen Lobbying ging mit der Gründung zahlreicher entwicklungspolitischer NROs einher. Dieser an sich positive Trend, oft als sogenannte Institutionalisierung oder Professionalisierung der Bewegung bezeichnet, stellt für ehrenamtlich Aktive der Bewegung aber keine Alternative zum Engagement dar, da Partizipation und Artikulation autonomer Gruppeninteressen enge Grenzen gesetzt sind.

Die oft auf regionale, nationale oder internationale Entscheidungsträger ausgerichteten NROs sind nur selten gut in lokale Strukturen eingebunden. Die entwicklungspolitische Bildungsarbeit ehrenamtlicher und der Lebenswelt sehr naher Dritte-Welt-Gruppen kann daher nicht von NROs ersetzt werden.

Mit dem wachsenden Legitimationsproblem von Entwicklungspolitik und den teilweise negativen Auswirkungen von Globalisierungsprozessen sind die Bedeutung der Gruppen und die Notwendigkeit, globale Zusammenhänge lokal zu vermitteln, jedoch ungebrochen. Daher gilt es, bestehende Initiativen zu stärken und neue Impulse für lokale Projekte der Entwicklungszusammenarbeit zu setzen.

Der Autor studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg sowie an der University of Edinburgh in Schottland. Mit seiner Diplomarbeit über Dritte-Welt-Grupppen in der lokalen Entwicklungszusammenarbeit gewann er 1998

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