Ohne Angst, glücklich zu sein, müssen wir sprechen, singen, schreien, lächeln… und genießen.“ So heißt es im Manifest, das der frühere Stadtrat Arimatéia Dantas im vergangenen Jahr im nordostbrasilianischen Esperantina zum „Tag des Orgasmus“ verbreiten ließ.
„Der Orgasmus ist eine Gabe Gottes“ stand auf einem Spruchband, das zwischen zwei Bäumen in der Stadtmitte Esperantinas aufgespannt war. Der Apotheker Edson Manoel da Silva berichtete, dass er im Vorfeld des Feiertags so viele Kondome verkaufte wie schon lange nicht mehr. Im Motel „Aphrodite“ wurde die erste Badewanne eingeweiht. Bei einer Vortragsreihe äußerten sich SexforscherInnen und SoziologInnen über die Möglichkeit, wie Frauen und Männer gemeinsam zum Orgasmus kommen können. Interessierte BürgerInnen konnten ihre Meinungen und Vorschläge zum Thema aufschreiben und in einer Urne auf dem Hauptplatz deponieren.
Der vom Stadtparlament ganz offiziell beschlossene Orgasmus-Tag, der weltweit für Aufsehen sorgte, ging auf eine Initiative von Arimatéia Dantas zurück. In einer beliebten Fernsehtalkshow schilderte der 40-jährige Aktivist der Arbeiterpartei PT, wie ihm die Idee nach einem missglückten Liebesakt gekommen sei. „Um mit Kants kategorischem Imperativ zu sprechen: Wenn die Frau dem Mann Lust bereitet hat, haben wir die moralische Verpflichtung, unsere Freundin ebenfalls zu befriedigen“, meinte Dantas. Mit den Feierlichkeiten setze Esperantina ein „Zeichen gegen den Machismo“.
Das größte Hindernis für die Lust, so Dantas, sei die „Repression, das Tabu, so etwas überhaupt zu thematisieren“. Seine Aktion, die heuer allerdings keine Fortsetzung fand, verweist auf die große Kluft zwischen dem Klischee der sexuell unbeschwerten BrasilianerInnen und der Realität – und dies beileibe nicht nur in der Provinz.
Brasilien sei eine zutiefst „autoritäre, machistische und rassistische Gesellschaft,“ schreibt die Philosophin Marilena Chaui, auch wenn „Mythen wie die Abwesenheit des Rassismus und die Sinnlichkeit eines mestizischen Volkes ohne Klassen- und Rassenschranken“ kultiviert würden.
Nicht ganz unschuldig daran ist der Soziologe Gilberto Freyre, der in seinem Klassiker „Herrenhaus und Sklavenhütte“ (1933) die zentrale Rolle der Sexualität bei der Herausbildung der brasilianischen Identität betonte. Die Herzlichkeit, Toleranz und Körperbetontheit der BrasilianerInnen sei auf die ethnische Vermischung in der Kolonialzeit zurückzuführen, so Freyre. Dabei glorifiziert er die Sinnlichkeit von indigenen und schwarzen Frauen. Bei den Beziehungen zwischen portugiesischen Kolonisten und afrikanischen Sklavinnen, für die erstere eine „fast morbide Vorliebe“ gezeigt hätten, seien Herrschaft und Vergnügen im Spiel gewesen. Dieser Sadomasochismus habe letztlich auch die autoritäre Gesellschaftsordnung des Landes begründet.
Ebenso wie Jorge Amado in seinen Romanen singt Freyre das Hohelied der sinnlichen Mulattin. Bis ins Absurde ausgewalzt wird dieses Klischee von Lebensfreude und Verfügbarkeit heutzutage in der medialen Vermittlung des Karnevals von Rio oder Salvador und in der Tourismuswerbung: „Ein Meer voller in die Luft greifender Arme und sich im Rhythmus der Musik bewegender Körper, bekleidet mit kurzen Röcken und sehr knapp geschnittenen Tops wird Sie faszinieren“, lockt ein Veranstalter von „Single-Reisen“ nach Brasilien. Dort treibt oft das nackte Elend viele Frauen, Jugendliche und Kinder in die Hände von Zuhältern oder Menschenhändlern, die sie ins Ausland schaffen. Die meisten Opfer dabei sind Schwarze, was die Kontinuität (neo-)kolonialer Ausbeutungsstrukturen unterstreicht.
Dennoch lassen sich die sexuellen Beziehungen in Brasilien nicht auf einen simplen Nenner bringen, denn dafür sind die Lebenswelten in dem 176-Millionen Land mit kontinentalen Ausmaßen einfach zu unterschiedlich. Unterschätzt wird häufig die Fähigkeit der Brasilianerinnen, dem Machismo ein Schnippchen zu schlagen. Das geschieht sicher nicht immer so pointiert und scheinbar mühelos wie in dem sehenswerten Spielfilm „Ich Du Sie – Darlenes Männer“ (2000), in dem die selbstbewusste Protagonistin den Spieß umdreht und schließlich harmonisch mit drei Ehemännern unter einem Dach lebt.
Aber Anzeichen für einen Wertewandel gibt es viele. Treibende Kraft dabei sind meist BrasilianerInnen der städtischen Mittelschichten, deren Angehörige sich in ihren Werten und Verhaltensweisen kaum von ihren Pendants in westlichen Industrieländern unterscheiden. Mit mehreren Büchern und einer eigenen TV-Sendung war die wichtigste Volksaufklärerin der achtziger Jahre Marta Suplicy, die heutige PT-Bürgermeisterin von São Paulo, von der auch ein Gesetzesentwurf zur Regelung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften stammt.
Ebenso wie feministischen NGOs ist es Schwulen- und Lesbengruppen in jahrelanger Kleinarbeit gelungen, Veränderungen bei Gesetzen und in der Rechtsprechung zu erstreiten und gleichzeitig Basisarbeit zu leisten. Die Juristinnen von der Nichtregierungsorganisation Themis aus Porto Alegre etwa haben sich auf die Schulung von „Volksanwältinnen“ in den Armenvierteln spezialisiert, die nach einer juristischen Grundausbildung in ihrer Nachbarschaft sicherstellen, dass sich Opfer von Männergewalt gezielt wehren können. Für landesweites Aufsehen sorgte Themis mit einer Klage gegen die Plattenfirmen, die frauenfeindliche Lieder („Ein Klaps tut nicht weh“) produzierten.
Brasiliens hochgelobte Anti-Aids-Politik wiederum wäre kaum ohne den Druck von Schwulenaktivisten zu Stande gekommen. Die Gay Parade von São Paulo wächst von Jahr zu Jahr, doch Vorurteile und Gewalt gegen Homosexuelle verschwinden nicht über Nacht. Hierbei spielen manche TV-Soaps eine durchaus positive Rolle, indem dort oft ein liberaleres Verständnis von Geschlechterrollen propagiert wird als es der brasilianische Durchschnittsmacho vertritt. Andererseits: Die Trennlinie zur Banalisierung von Sexualität ist oft dünn – und in unzähligen Fernsehshows wird sie ganz offen betrieben: Leichtbekleidete, hüpfende Blondinen oder Mulattinnen bedienen schlüpfrige Männerphantasien.
Da liegt es nahe, dem Fernsehen die Hauptschuld an der Sexualisierung der brasilianischen Gesellschaft zuzuschieben. In Rio de Janeiro sind über 800 Mädchen zwischen 10 und 14 schwanger, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Doch dieses Phänomen ist auf die Favelas beschränkt, in denen Elend und Perspektivlosigkeit vorherrschen. Weil sie „nichts zu verlieren hätten“, verzichteten viele Jugendliche aus der Unterschicht auf Verhütungsmittel, meint dazu die staatliche Gesundheitsbehörde.
So erweist sich das neoliberale, die soziale Ausgrenzung zementierende Wirtschaftsmodell, das Brasilien im Klammergriff hält, als vielleicht maßgeblicher Faktor für die anhaltende Gewalt, zerrüttete Familien und sexuelle Ausbeutung. Wegen der übermächtigen Logik der Finanzmärkte werden auch unter dem linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva für Bildung, Gesundheit und Arbeitsbeschaffung dringend nötige Milliardenbeträge geopfert.
Vor diesem Hintergrund bekommen die visionären Überlegungen von Gilberto Gil eine besondere Brisanz. In Brasilien, so der Popstar aus Bahia, der seit Jahresbeginn Lulas Kulturminister ist, könnte sich ein Gegenentwurf zum „erschöpften US-amerikanischen Zivilisationsmodell“ mit seinem „Primat der Produktivität, der technisch-wissenschaftlichen und militärischen Kraft“ entwickeln. Anders als in den USA sei in Brasilien aus dem Erbe der europäischen, arabischen und asiatischen EinwandererInnen, der Nachkommen der afrikanischen SklavInnen und der indigenen Urbevölkerung ein „mestizisches, transkulturelles“ Volk entstanden – Gilberto Freyre lässt grüßen!
Brasilien, so Gil, sei ein „neues amerikanisches Projekt. Wir müssen die Nationenbildung vollenden, die ausgegrenzten Teile der Gesellschaft einbinden. Das ist der Ausgangspunkt für die Freundlichkeit, für das gute Zusammenleben der Völker, Ethnien, Hautfarben und Glaubensbekenntnisse“. Die brasilianische Kultur mit „ihrer außerordentlichen Verarbeitung dieser verschiedenen Ursprünge“ nehme bereits jenes Land vorweg, das es nun auf sozialem Gebiet aufzubauen gelte. Demnach wäre die vielbeschworene brasilianische Sinnlichkeit doch mehr als nur ein Mythos.