Ist Ihnen der deutsche Autor Benno von Archimboldi bekannt, einer der größten Schriftsteller der deutschen Sprache im 20. Jahrhundert? Er, der unsichtbare, der rätselhafte, der verschollene Autor ist der Protagonist des postum erschienenen Hauptwerkes von Roberto Bolaño. 2004 erschien das Buch in Spanien und erst mit fünfjähriger Verzögerung in Deutschland, nachdem im November des Vorjahres in den USA die englischsprachige Version zum literarischen Großereignis des Jahres geworden war.
Rund um den unauffindbaren Schriftsteller hat sich ein Kreis von LiteraturwissenschaftlerInnen gebildet, die Werk und Leben des ominösen Stars erforschen. Bolaño führt uns anhand von vier internationalen „Experten“ in den Archimboldi-Kult ein: ein Italiener, ein Spanier, ein Franzose und die Engländerin Liz Norton. Als das Gerücht auftaucht, Archimboldi wäre in Mexiko gesehen worden, fliegt das Expertenquartett schnurstracks ins Aztekenreich: u.a. ein Prüfstein für die intimen Beziehungen mit ihren tragikomischen erotischen Verwicklungen, die die britische Fachfrau mit den drei Archimboldianern bereits in Europa aufgenommen hatte.
In Mexiko führt sie die Spurensuche nach Santa Teresa, eine fiktive Stadt in der wüstenhaften Grenzgegend zu den USA, hinter der unschwer Ciudad Juárez zu erkennen ist. Diese Stadt hat es seit den 1990er Jahren zu trauriger Berühmtheit gebracht. Hunderte junger Frauen, vor allem Arbeiterinnen aus den Weltmarktfabriken – Schätzungen sprechen von über 400 Fällen – wurden dort in den letzten 15 Jahren entführt, brutalst vergewaltigt und die Leichen auf Mülldeponien oder irgendwo in der Wüste „entsorgt“.
Im „Teil von den Verbrechen“, dem vierten und umfangreichsten der fünf Teil-Bücher, mutet Roberto Bolaño den Leserinnen und Lesern harte Kost und viel Ausdauer zu. Auf über 350 Seiten beschreibt er, mit der Distanziertheit und Genauigkeit eines Gerichtsmediziners, an die hundert solcher Mordfälle, beschreibt auch das soziale, politische und wirtschaftliche Umfeld, in dem diese Verbrechen entstehen und straflos gedeihen konnten.
Im letzten Teil verfolgt der chilenische Autor den Lebensweg des 1920 in Preußen geborenen Hans Reiter, der sich später den Namen Benno von Archimboldi zulegen sollte: seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, der Beginn seiner Karriere als Schriftsteller, die Nachkriegszeit in Deutschland. Nun laufen die in den vier vorhergehenden Teilen gesponnenen Handlungsfäden zusammen. Am Ende des Romans reist der bereits 80-jährige Archimboldi nach Santa Teresa, weil der der Frauenmorde angeklagte Klaus Haas sein Neffe ist.
Bolaño, 1953 in Santiago de Chile geboren, emigrierte 1968 mit seiner Familie nach Mexiko und übersiedelte 1977 nach Spanien, wo er von verschiedensten Hilfsarbeiten lebte. Sein literarischer Durchbruch erfolgte 1998 mit „Die wilden Detektive“.
Damals schon begann er an seinem Roman „2666“ zu schreiben, bis zu seinem Tod im Juli 2003, als der an Leberzirrhose Erkrankte in einem Spital auf ein Ersatzorgan zur Transplantation wartete. Das Werk sei zu diesem Zeitpunkt schon kurz vor dem Abschluss gestanden, sagt sein Freund und literarischer Sachwalter Ignacio Echevarría.
Bolaños schriftlicher Redefluss scheint unerschöpflich. Manchmal erweckt der Autor den Eindruck, er möchte in diesem Werk noch all sein Wissen, seine Gedanken, seine Vorstellungen vom Zustand der Welt, die bereits jetzt ein solides Fundament des Bösen aufgebaut hat, zwischen den Buchdeckeln unterbringen. Um die Hauptstränge der Erzählung ranken sich unzählige lose, sich verästelnde Geschichten, die Leserinnen und Leser, die möglichst schnell auf die Essenz der Handlung kommen wollen, ganz schön nerven können …
Doch was ist denn das Wesentliche in diesem Monumentalwerk, in diesem Bolaño-Kosmos? Das Geheimnis der Welt ist in den Frauenmorden von Ciudad Juárez verborgen: Dieser lapidare Nebensatz einer Romanfigur scheint mir ein Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage zu sein. Oder, noch früher in der Geschichte: „Der Nationalsozialismus war das zu absoluter Herrschaft gelangte Trugbild.“ Das Geheimnis der Welt scheint im Geheimnis des Bösen zu liegen, das im vergangenen Jahrhundert in der Herrschaft des Nationalsozialismus triumphierte und sich heute in den Serienmorden an Frauen in der mexikanischen Grenzstadt manifestiert.
Vielleicht kann man es als einen Lichtblick bezeichnen, dass Bolaño den endzeitlichen Friedhof, „vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das etwas vergessen möchte oder alles vergessen hat“, ins Jahr 2666 verlegt. Bleibt uns somit noch Zeit, den Lauf der Geschichte herumzudrehen, die Kräfte des Guten zu aktivieren?
Der chilenische Autor, der erst in seinen letzten Jahren internationale Beachtung und Wertschätzung erfuhr und als aussichtsreicher Kandidat für den Nobelpreis galt, wusste um sein nahes Ende – und hoffte auf die Lebertransplantation, die dieses Ende verzögern sollte. Doch zu dieser sollte es nicht mehr kommen.
Roberto Bolaño:
2666 Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen.
Hanser Verlag, München 2009,
1.096 Seiten, EUR 29,90