Die einmotorige Propellermaschine setzt auf der Sandpiste auf. Verdorrte Büsche, eine Hütte aus Ästen das einzige Gebäude weit und breit. Eine Kamelherde setzt die kurz unterbrochene Wanderung quer über die Landebahn fort. So sieht also die Ankunft in Dinsor aus, der Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks im Süden Somalias: einem Staat, knapp doppelt so groß wie Deutschland, der als solcher nur auf der Landkarte existiert und nicht selten als einzige Anarchie der Welt bezeichnet wird. Der Norden hat sich als Republik Somaliland selbständig gemacht, im Vorjahr gewählt und relativ stabile Verhältnisse aufgebaut (siehe SWM 12/2005, S. 21-23).
Ganz anders der Süden, wo auch Somalias Hauptstadt Mogadischu liegt. Der 15 Jahre andauernde Bürgerkrieg hat hier tiefere Spuren hinterlassen als anderswo. Eine Unzahl verschiedener Clans, Milizen und Warlords kontrollieren mehr oder weniger die verschiedenen Regionen. Eine funktionierende Regierung existiert nicht. Darüber hinaus sucht die schwerste Dürre seit über zehn Jahren die Region um Dinsor hier am Dreiländereck zwischen Kenia, Äthiopien und Somalia heim. Viele Wasserstellen sind ausgetrocknet, und ganze Dorfgemeinschaften verlassen ihre Häuser, um anderswo Wasser zu finden.
Hilfe wird dringend benötigt. Doch bei der herrschenden Unsicherheit können auch internationale Hilfsorganisationen nur eingeschränkt arbeiten. Selbst das Internationale Rote Kreuz und UNICEF haben ihre gesamten internationalen MitarbeiterInnen für dieses Gebiet in Kenias Hauptstadt Nairobi stationiert. Von dort versuchen diese, von gelegentlichen Kurzbesuchen abgesehen, ihre somalischen Projekte aus der Ferne zu lenken. Nur die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat an die 40 internationale MitarbeiterInnen in den unterschiedlichen Projekten hier im Süden, sechs davon alleine in Dinsor.
Die Fahrt vom Flugfeld in die Stadt dauert keine fünf Minuten. Zwei Sicherheitskräfte stehen mit umgehängten Kalaschnikows auf der Ladefläche des Kleintransporters. Die Waffen wirken alt und unbenützt, flößen aber trotzdem Furcht ein. Die Fahrt geht vorbei an einer Ruine, die vor dem Bürgerkrieg eine Tankstelle war. Dann links am Stadtrand das mit einer Steinmauer eingezäunte Krankenhaus, das Ärzte ohne Grenzen hier seit drei Jahren betreibt.
Der Franzose Bertrand Rossier koordiniert seit neun Monaten das Projekt vor Ort. Gemeinsam mit seinem Team hat er in dieser Zeit viel erreicht. Ein Neubau beherbergt das Therapeutische Ernährungszentrum, in dem an die dreißig stark unterernährte Kinder behandelt werden. In einem anderen eben erst renovierten Gebäude ist die Frauenstation untergebracht. Nur die männlichen Patienten müssen noch in im Hof aufgestellten Zelten schlafen.
Vier Monate zuvor hatte das Hospital an die 40 Betten. Jetzt sind es zusammen mit dem Ernährungszentrum 85. Darüber hinaus werden 160 Tuberkulose-PatientInnen täglich mit den notwendigen Medikamenten versorgt. Dazu kommen knapp 4.000 Konsultationen monatlich, die das medizinische Team zu bewältigen hat. Dinsor ist das einzige Krankenhaus des gesamten Distrikts mit seinen 100.000 bis 120.000 EinwohnerInnen.
Vincent Ochieng aus Kenia, der einzige Arzt, führt in dem kleinen Operationsraum die unterschiedlichsten Operationen durch: von Schussverletzungen bis zum Kaiserschnitt. OP-Licht sind drei 12-Volt-Lampen, angeschlossen an Autobatterien, die von ein paar Solarpanelen am Dach gespeist werden. Die Skalpelle, Pinzetten und sonstiges chirurgisches Besteck werden im Sterilisator über dem Kohlefeuer erhitzt.
Vor jedem Eingriff lässt der Arzt sich von einem der nächsten männlichen Angehörigen des Patienten bzw. der Patientin in Beisein eines der Clan-Ältesten eine Verfügung unterschreiben, die bestätigt, dass die Angehörigen über das Risiko Bescheid wissen. Diese Regel muss streng eingehalten werden, erklärt Rossier, sollte der Tod eines Patienten während einer Operation nicht zum Sicherheitsproblem werden. Blutrache ist in dem Gebiet, das über kein Rechtssystem im westlichen Sinn verfügt, weit verbreitet. Ohne es als außergewöhnlich zu betrachten, erzählen lokale MitarbeiterInnen von einem Jugendlichen, der in der Woche zuvor in einem Dorf in der Nähe erschossen wurde. Sein Clan übte Rache, und ein anderer Mann wurde getötet. Mehrere andere wurden verletzt. Erst nachdem die Clan-Ältesten sich getroffen und über eine Entschädigungszahlung geeinigt hatten, kehrte Frieden ein.
Vier Hauptclans gibt es in Dinsor. Die etwa 70 einheimischen MitarbeiterInnen im Krankenhaus spiegeln das Clangefüge der Gegend wider. Die Aufnahme von neuem Personal bedeutet für Rossier und sein Team jedes Mal eine Herausforderung. Kaum jemand der medizinischen MitarbeiterInnen hat eine einschlägige Ausbildung. Darüber hinaus bestimmt das Gesundheitskomitee, eine Gruppe einflussreicher Männer aus den unterschiedlichen Clans, wer für eine Anstellung in Frage kommt – stets nach Clanzugehörigkeit aufgeteilt. Eine Anstellung bedeutet nicht nur ein geregeltes Einkommen für die einzelne Person, sondern auch finanzielle Unterstützung für den gesamten Clan. Ein Umstand, der nicht selten zu Spannungen führt, wenn sich ein Clan benachteiligt fühlt. Diese kann Bertrand nur in langen Verhandlungsrunden mit den Clan-Ältesten wieder abbauen.
Die notwendigen Kenntnisse und Grundwissen über Gesundheit und Hygiene müssen die neuen MitarbeiterInnen meist erst vermittelt bekommen. Etwa von Marie Clarisse, der für das Ernährungszentrum zuständigen französischen Krankenschwester. Geduld und Ausdauer sind gefragt, wenn sie ein um das andere Mal darauf besteht, dass die MitarbeiterInnen sich die Hände waschen oder die Becher ausspülen, ehe sie den unterernährten Kindern ihre Milch ausschenken.
Je länger die Dürre anhält, desto schlechter wird die Wasserqualität in den Brunnen. Die letzten zwei Regenzeiten waren viel zu kurz oder blieben in vielen Gebieten ganz aus. Die großen Regenwasser-Reservoirs, künstlich angelegte Teiche rund um die Stadt, sind längst ausgetrocknet. Das Wasser in den von Hand gegrabenen Brunnen hat meist so viel Salz, dass nur Rinder und Kamele es trinken können, es für Menschen aber ungenießbar ist. So prüfen die Wächter bei jedem einzelnen Esel-Fuhrwerk, das Wasser ins Krankenhaus bringt, den Salzgehalt. Wenn dieser zu hoch ist, schicken sie die Lieferanten wieder weg, was nicht selten geschieht.
Sollte der Regen nicht bald kommen, können auch die Felder nicht bepflanzt werden. Noch hungert die Bevölkerung nicht wie in Niger, wo Marie Clarisse zuvor gearbeitet hat, doch die Zeichen von Unterernährung mehren sich. „Wöchentlich kommen mehr und mehr Mütter mit ihren Kindern ins Ernährungszentrum, und auch die Durchfallerkrankungen nehmen zu“, bemerkt sie.
Während in den Nachbarländern, im Norden Kenias und im Osten Äthiopiens, viele internationale Organisationen und JournalistInnen vor Ort sind, bleibt die Lage der Zivilbevölkerung im Süden Somalias großteils unbeobachtet. In Somalia zu arbeiten oder auch nur das Land zu bereisen, um darüber zu berichten, ist schwierig und nach wie vor gefährlich. Dabei hätte gerade die Region im Süden internationale Aufmerksamkeit nötig.