… ohne Ende und Genuss

Von Liselotte Wohlgenannt · · 2004/07

Arbeitslosigkeit ist gleich Freizeit ohne Ende. Dem ist nicht so. Vor allem fehlt dann die Muße, seine freie Zeit auch zu genießen. In unserer Gesellschaft ist Einkommen, Status, Wertschätzung und vieles mehr an Erwerbsarbeit gebunden. Ein Umdenken findet selbst in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit erst in Ansätzen statt.

Wer arbeiten will, findet auch Arbeit – so kann man hören. Das entspricht unserer alltäglichen Erfahrung. In jedem Haushalt wartet ständig Arbeit, die zu tun ist. Kinder, kranke oder alte Familienangehörige brauchen Zuwendung und Pflege, Kochen, Waschen, Reinigungsarbeiten verlangen Zeit und Mühe. Heimwerker und Hobbygärtnerinnen haben immer etwas zu tun. Gemeinnützige Vereine und soziale Initiativen suchen engagierte, einsatzbereite Mitarbeiterinnen und Helfer. Arbeit gibt es genug.
Nur: Arbeit ist nicht gleich Arbeit. Obwohl die unbezahlte Arbeit in der Familie unmittelbare Sinnerfahrung ermöglicht, und wenngleich freiwilliges Engagement Anerkennung und Kontakt mit anderen vermittelt, fehlt in beiden Fällen das Wesentlichste: das Geld; das heißt das notwendige Einkommen, um den eigenen Lebensbedarf zu decken. Deshalb wird in der Arbeitsgesellschaft der Begriff „Arbeit“ meist auf Erwerbsarbeit verkürzt.
Im Jahresdurchschnitt 2003 suchten in Österreich 240.000 Männer und Frauen einen Arbeitsplatz. Weitere 40.000 Arbeitsuchende bereiteten sich in einer Ausbildungsmaßnahme des Arbeitsmarktservice (AMS) auf einen neuen Arbeitsplatz vor. Demgegenüber wurden im Durchschnitt 22.000 offene Stellen angeboten – rein rechnerisch eine offene Stelle für 13 Bewerber. Wer arbeiten will, findet auch Arbeit? Wo es um Erwerbsarbeit geht, kann dieser Satz offensichtlich nicht stimmen!

Die Arbeitslosigkeit steigt in den europäischen Ländern seit rund zwei Jahrzehnten, trotz vorübergehender Schwankungen. Dabei wurde Arbeit in dieser Zeit auch immer neu verteilt: durch Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Verlängerung der Urlaubsansprüche, Elternkarenz und Sabbatzeiten – vor allem aber durch die Umwandlung von Vollzeit-Arbeitsplätzen in Teilzeit und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Längere Ausbildungszeiten der Jugendlichen und Frühpensionierungen verzögerten die Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Politik der Einschränkung der Frühpensionen und der entsprechenden Erhöhung des Pensionseintrittsalters ist ein, wenn auch nicht der einzige Grund für das im Jahr 2004 zu beobachtende verstärkte Ansteigen der Arbeitslosenzahlen. Dabei ist Arbeitslosigkeit heute weder auf gesellschaftliche Gruppen, noch auf bestimmte Zeiten konzentriert.
Erwerbsarbeit strukturiert unsere Gesellschaft. Vom konkreten Arbeitsplatz hängen Einkommen, soziale Sicherheit, Selbstwert und Anerkennung durch andere ab. Mit der industriellen Revolution wurden jene Kräfte frei, die es erlaubten, ein hohes Maß an Gütern bereitzustellen und einen Wohlfahrtsstaat zu entwickeln, der niemanden ausgrenzen sollte. Vollbeschäftigung und Arbeitsgesetzgebung bildeten die Grundlagen für die solidarische Absicherung von Lebensrisiken wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit.

Im Übergang zur Wissensgesellschaft der Zukunft beschäftigt die Industrie heute nur wenige, meist hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die für Programmierung und Überwachung automatischer Produktionsabläufe zuständig sind. Über 60 Prozent aller Beschäftigten sind in den verschiedenen Dienstleistungsbereichen tätig, zu denen Banken und Versicherungen ebenso gehören wie Handel, Gesundheitsdienste oder Reinigung. An die Stelle sicherer, langfristiger Arbeitsverhältnisse treten dabei in vielen Fällen kurzfristigere, flexiblere, oft ungesicherte Jobs oder neue Formen von Selbständigkeit. Das Lebensmuster Ausbildung – Erwerbsarbeit – Pension, früher die normale Erwerbsbiographie der Männer, gilt immer weniger. Frauen und Männer werden gleichermaßen zu einer von Flexibilität geprägten Abfolge von Lernen, Arbeit, Arbeitslosigkeit oder freiwilliger Auszeit für Kindererziehung, Pflege oder Weiterbildung und erneutem Berufseinstieg gezwungen; letzteres vielleicht in einem Alter, in dem andere bereits in Pension sind. Diese Veränderungen zeigen sich heute bereits in den Schwierigkeiten der Finanzierung der Sozialversicherungen, die auf Grund hoher Arbeitslosigkeit mit geringeren Einnahmen und höherem Bedarf konfrontiert sind.
Obwohl Arbeitslosigkeit strukturell bedingt ist, wird sie den Einzelnen als Versagen zugeschrieben. Wer keine Arbeit hat, steht unter dem Druck des Arbeitsmarktservice, sich aktiv um einen Arbeitsplatz zu bemühen, und unter dem Druck der Umgebung, die immer rasch bereit ist, zu (ver-)urteilen. So ist es zumindest bei längerer Arbeitslosigkeit kaum möglich, sich der gewonnenen freien Zeit zu erfreuen oder sich in Ruhe selbst definierten Projekten zuzuwenden. Ausnahmen von dieser Regel können in Randregionen mit hoher Arbeitslosigkeit beobachtet werden, vor allem dann, wenn traditionelle soziale und räumliche Strukturen vielerlei Betätigungsmöglichkeiten anbieten. Etwas anderes ist es auch, wenn Langzeitarbeitslosigkeit und Vorruhestand ineinander übergehen. Denn im Gegensatz zu Arbeitslosen dürfen PensionistInnen sehr wohl ihre „Freizeit“ genießen, die sie sich – nach allgemeiner Meinung – redlich verdient haben.
In den letzten Jahren haben sich an verschiedenen Orten Arbeitslose in Selbsthilfe-Initiativen zusammengeschlossen. In Treffpunkten, Vereinen und Diskussionsforen analysieren sie ihre Situation und unterstützen sich gegenseitig. Dabei ergeben sich Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen und zugleich die Öffentlichkeit auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Eine Selbsthilfegruppe von älteren Arbeitslosen in Wien nennt sich „Zum Alten Eisen?“. Dieser Verein engagiert sich seit 1994 für die Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen gegenüber Arbeitslosen und für die Schaffung neuer, zukunftsorientierter Arbeitsplätze. Mit ihrem Können und ihrer Lebenserfahrung melden sich die Mitglieder auch in der Öffentlichkeit zu Wort. So fordern sie – gemeinsam mit anderen – die Einrichtung der Funktion eines Arbeitslosensprechers als Lobby und Sprachrohr für die Erwerbsarbeitslosen.

Arbeitslosengeld und Notstandshilfe sind um vieles niedriger als das reguläre Einkommen und reichen meist gerade für das Nötigste. So beschränkt auch der Mangel an Geld die Möglichkeiten, Freizeit zu genießen. In der Stadt kostet fast jede Freizeitgestaltung Geld, und sei es auch nur der Straßenbahnfahrschein, um irgendwo hin zu gelangen. Anderswo ist es wichtig, mittun zu können, ein Getränk im Gasthaus zu bezahlen oder andere nach Hause einzuladen.
Für manche Arbeitslose sind neben den traditionellen Vereinen Tauschkreise eine Hilfe, aus der Isolation herauszutreten und gleichzeitig ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Diese Vereinigungen verfolgen unterschiedliche Ziele, wobei schonender Umgang mit der Umwelt, Austausch von Diensten und Dingen und gegenseitige Unterstützung sich ergänzen. Solche Gruppen und Vereine können das Leben nicht nur in materieller Hinsicht erleichtern, weil manches Bedürfnis gedeckt werden kann, ohne dass dafür Geld ausgegeben werden muss. Tauschkreise schaffen respektvolle persönliche Beziehungen, weil jede und jeder geben und nehmen kann. Frei verfügbare Zeit wird zur wertvollen Ressource, die zum eigenen und zum Nutzen anderer eingesetzt, auch Anerkennung bringt.
Jeder Mensch hat Würde – unabhängig von Erwerbsarbeit und Leistung. Wenn Erwerbsarbeit sich verändert und kein dauerhaftes, gesichertes Einkommen garantieren kann, braucht es andere Formen der Existenzsicherung. Ein von Erwerbsarbeit unabhängiges, bedingungsloses Grundeinkommen würde Möglichkeiten schaffen, Arbeit – bezahlte und unbezahlte – sinnvoll zu teilen und zu verteilen, zwischen den Geschlechtern und über die Lebenszeit. Damit könnten neue und alte Formen von Arbeit wieder anerkannt werden. Damit wird dann auch die Bindung von Freizeit an Erwerbsarbeit aufgelöst. Wenn jede Arbeit als Arbeit zählt, schwindet die Diskriminierung und der Rhythmus von Arbeit und Freizeit, von Tätigkeit und Muße gewinnt neue Gestalt.

Lieselotte Wohlgenannt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Katholischen Sozialakademie in Wien.

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