Wie Flüchtlinge zu sogenannten Freedom Fighters werden. Christina Schröder hat bei einem Training mitgemacht und dabei viel gelernt.
Beim Gongschlag geht es los. Sechs Männer stehen regungslos in zwei Reihen auf der Matte und meditieren. „Beobachtet euren Atem, steht unverkrampft, locker. Der Körper muss entspannt sein, der Geist im Augenblick ruhen, um unmittelbar reagieren zu können“, sagt Ronny Kokert, der Trainer, er war früher Profi-Kampfsportler.
Es ist ganz still im Raum, seine Stimme klar und deutlich.
Minuten später wird bei wummernder Musik paarweise gekickt, geboxt, und sich geduckt. Dabei springen die Kämpfer hoch und fliegen förmlich durch die Luft. Alle paar Takte halten sie inne, verbeugen sich vor dem Gegenüber und wechseln dann den Gegner. Alle wirken voll konzentriert und kraftgeladen, bewegen sich unverkrampft mit anmutender Leichtigkeit. Selbstbestimmung, Ausgeglichenheit und Gelassenheit – sowohl in der Bewegung als auch auf mentaler Ebene, das lehrt Kokert seine Schüler. Wer innere Hürden wie Ängste, Stress und Frustration überwinden kann, wird frei, so die Devise.
Durchgekämpft haben sich jene, die heute im Kampfsport-Zentrum Shinergy Base im achten Wiener Bezirk trainieren und sich Freedom Fighters nennen, von Afghanistan, Syrien oder Somalia bis nach Österreich. Bei Kokert lernen sie die von ihm entwickelte Kampfmethode Shinergy: „Im Mittelpunkt unseres Trainings steht der respektvolle Umgang mit dem Partner, miteinander üben statt gegeneinander kämpfen. Konflikte werden konstruktiv und friedlich gelöst. Die Mischung aus Meditation, Sport und Teamgeist wappnet uns alle auf körperlicher und geistiger Ebene für die Herausforderungen im Alltag“, sagt Kokert.
Medaillen-Hoffnung. Die Teilnahme an Turnieren gäbe den Burschen zusätzlich ein sportliches Ziel.
Nach nur eineinhalb Jahren Training vertreten Mahmud Hafizi und Mostafa Merzai, beide 19 Jahre alt, das Shinergy-Team im November beim Kickbox-Weltcup in Bregenz. Im April diesen Jahres haben sie bei den österreichischen Staatsmeisterschaften in Wels Gold-, Silber- und Bronzemedaillen abgeräumt.
Bis zu viermal in der Woche trainieren die zwei dafür nach der Schule. Sie besuchen das Gymnasium bzw. die Handelsakademie. „Bevor ich nach Österreich kam, bin ich vier Jahre lang nicht in die Schule gegangen“, sagt Mostafa Merzai, „aber das hole ich jetzt nach. Egal ob Ausbildung oder Sport, man kann alles schaffen, wenn man sich darauf konzentriert und ein bisschen Unterstützung hat.“
Kurz vor dem Sommer 2015 ist er nach einer lebensgefährlichen, mehrjährigen Flucht aus Afghanistan nach Traiskirchen gekommen, hat dort mithilfe von Youtube-Videos sofort mit dem Deutschlernen begonnen und wenig später Kokert kennengelernt.
Kokert kam beim ehrenamtlichen Mithelfen im Flüchtlingslager die Idee, den Menschen Kampfkunst-Training anzubieten. „Auf den ersten Blick scheint es absurd, aber beim Kampfsport lernt man den Geist im Augenblick ruhen zu lassen, sich von innerer Wut und Aggression zu befreien und aus Angst Mut zu schaffen“, erklärt Kokert.
Sportliche Unterstützung. Kokert durfte sich als Jugendlicher wegen einer Krankheit zwei Jahre kaum bewegen und studierte in der Zeit Bücher über fernöstlichen Kampfsport und Philosophie. Später holte er alles körperlich nach, wurde Profi-Kampfsportler und errang viele Preise. Als er immer wieder in Schlägereien verwickelt wurde und unter dem Leistungsdruck litt, wandte er sich wieder mehr den philosophischen Hintergründen zu und entwickelte, aufbauend auf dem japanischen Zen-Buddhismus, Shinergy. Das sei Selbstverteidigung, Sport und vor allem Kampfkunst, die auch auf geistiger Ebene ansetzt.
Zwei Mal in der Woche bieten er und sein Co-Trainer, Elias Keil, rund 20 ehemaligen Flüchtlingen kostenlos Training an. Darüber hinaus unterstützt Kokert sie bei Asylverfahren, auf der Suche nach Wohnmöglichkeiten, Ausbildungswegen und Lehrstellen.
Hafizi möchte gerne Schweißer werden. Auch er hat eine abenteuerliche Flucht hinter sich, die er in nahezu fließendem Deutsch nacherzählt. Er kommt aus einem Dorf in Nord-Afghanistan. Als er 13 Jahre alt war, trat er auf dem Schulweg auf eine Mine und verletzte sich schwer am Fuß. Aus Angst, dass ihm noch mehr passieren könnte, heuerten seine Eltern Schlepper an, die ihn nach Europa bringen sollten. Fast zwei Jahre lang war er vorwiegend zu Fuß unterwegs – dabei machte ihm auch seine frühere Verletzung zu schaffen.
Heute lebt er bei einer Pflegemutter nahe Wien und trainiert seit gut eineinhalb Jahren Kampfsport, drei oder vier Mal in der Woche. Außerdem geht er tanzen und hat Skifahren gelernt. „Mein Fuß tut immer noch weh, aber der Sport tut mir psychisch gut“, erklärt Hafizi, der bei zwei Kickbox-Turnieren schon Silber und Bronze gewonnen hat.
Motivation und Halt. Die berechtigte Hoffnung auf Medaillen beim Weltcup-Turnier motiviert Hafizi und Merzai gerade besonders. Das alltägliche Training aber gibt ihnen fortwährend Energie und Halt, denn, so Merzai: „Wichtig ist, dass wir zusammenhalten. Wir sind eine Gruppe, keine Einzelkämpfer. Das Training macht uns Spaß und gibt uns Kraft, unsere Ziele zu erreichen – auf der Matte und im Leben.“ Der Kampfsport hilft dabei, Frieden zu finden.
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