„Das ist nicht mein Land“, dachte er. Acht Tage verbrachte der italienische Journalist Fabrizio Gatti (*1966) unter dem falschen Namen „Bilal Ibrahim el Habib“ als Irak-stämmiger Kurde im Flüchtlingslager auf Italiens „Kanareneiland“ Lampedusa. Ein Vorposten auf halber Strecke von Tunesien, und jener Ort, den Lega-Nord-Politiker Mario Borghezio gar als „Fünfsterneressort“ pries.
Gatti schnitt sich die Haare ab, ließ sich einen Bart wachsen, legte alte Kleidung an und fertig war sein Look. Drei Telefonkarten, ein paar Euro und US-Dollar, eine Wasserflasche, Brötchen, marokkanische Ölsardinen waren sein Gepäck, als man ihn nach vier Stunden im Meer barg. „Es wird schon kein Journalist sein“, scherzten Polizisten bei seiner Einvernahme.
Gatti erlebte das Lager Lampedusas nicht als Wellnesstempel. Kloräume voller Kot, beißender Uringestank, Betten voller Flöhe, Menschen, die in den Essräumen auf Tischen schlafen und Gewalt. Eben Angekommene – frierend wie hungernd – wurden von Carabinieri geschlagen. „Bilals“ Lager-Eindrücke erinnern an das Bagdader Abu Ghraib-Gefängnis: Nackt vor Carabinieri paradieren, Muslimen zeigte man unter Zwang Porno-Filme. Wer seine Augen verdeckte, wurde beschimpft, oder es setzte Schläge wie Tritte. Die EU schreibt sich „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ auf ihre Fahnen, was davon bleibt ist Ignoranz, prangert Gatti an.
Monate war der Journalist auf mehreren Reisen unterwegs: Im Senegal, durch die Sahara, über das Mittelmeer. „Von 200 Menschen sterben im Schnitt 24 zur See. Schaffen es einmal aus einem Boot alle, ertrinken dafür beim Nächsten vielleicht gleich 48“, sagt Gatti. Für andere komme der Tod früher. In der Wüste ihrem Schicksal überlassen, von Militärs, die sie nicht bestechen können, ermordet, von Banditen erschossen.
In seinem auf Italienisch erschienenen Epos „Bilal. Il mio viaggio da infiltrato nel mercato dei nuovi schiavi“ (Bilal. Meine Reise als Eingeschleuster in den Markt der neuen Sklaven) führt Gatti seine LeserInnen weiter als in seinen früheren Enthüllungsreportagen als „Rumäne“ in einem Gefängnis Mailands, das mittlerweile geschlossen wurde, sowie in einem Armenviertel vor Mailand (siehe Kasten).
Nach acht Tagen wurde Gatti alias Bilal mit der schriftlichen Aufforderung, das Land zu verlassen, aus dem Lager entlassen. Eine Aufforderung, an die sich die Wenigsten halten. Was Gatti für Italien beschreibt, findet sich ähnlich in Spanien: Nach 40 Tagen Internierung bekommen ImmigrantInnen, die nicht abgeschoben wurden, den Bescheid, das Land zu verlassen und werden auf die Straße gesetzt. „Oft kommen sie dann freudestrahlend zu uns“, sagt Sylvia Koniecki, Mexikanerin mit deutschen Wurzeln, die im andalusischen Granada im Zentrum Acoge (Nimm auf!) arbeitet. „Sie glauben, sie hätten die Aufenthaltspapiere in den Händen.“
Im vergangenen Monat ist kein „Cayuco“ – hölzerne Fischerboote – aus Senegal gen Kanaren aufgebrochen, rühmte sich Spaniens Marine kürzlich, die vor Afrikas Westküste als Teil von FRONTEX, der Grenzschutz-Agentur der EU patrouilliert. So kam Abu (21) eben von Mauretanien auf die Inseln und weiter nach Granada. Auf seinem Boot überlebten alle die elftägige eng gedrängte Fahrt. „Viele andere würden sterben“, kommentiert er den Transport. Er lebt vom Straßenhandel, denn die unter der Hand bezahlten Löhne in Gewächshäusern der Region seien „sehr niedrig“, keine 20 Euro am Tag.
Schließt sich eine Route, öffnen Schlepper eine andere, die Strecken werden immer gefährlicher. Im Oktober wurde Leidi Fall (29) nach 21 Tagen als einziger Überlebender seines Boots nahe Kap Verde gerettet. Anstelle von Benzin waren die Kanister mit Wasser gefüllt. Als die Motoren verstummten, begann die Panik, dann das Sterben. Fall war als Co-Bootsmann angeheuert worden und hatte so einen Gratisplatz erhalten. Nun wird ihm in seiner Heimat Senegal der Prozess wegen 56-fachen Mordes gemacht. Gar von bis zu 33 ertrunkenen MigrantInnen, die per Schlauchboot von Marokko nach Spanien wollten, berichtet die spanische Tageszeitung El País Ende April. Marokkanische Marinesoldaten schnitten ihr Boot auf und sahen untätig zu, wie Kinder, Frauen und Männer ertranken, erzählt ein Überlebender, Erik O. (31), aus Nigeria. O. verlor seine Frau und seine dreijährige Tochter und sitzt nun bei Oujda im Grenzgebiet zwischen Algerien und Marokko fest.
Rabat dementierte, doch ist dies kein Einzelfall. Im Oktober 2007 nahe der spanischen Afrikaenklave Ceuta stachen Zivilgarde-Beamte vier Migranten ihre Schwimmwesten auf. Ein Senegalese (29) konnte nicht schwimmen. Erst als sein Überlebenskampf gescheitert war, versuchte man ihn zu reanimieren. In einem namenlosen Grab bestattet, stellte sich heraus, dass er Verwandte in Almería hatte und Laucling Sonki hieß.
Statistische Annäherungen an ein Drama bringt eine Studie über Flüchtlinge aus den Subsahara-Staaten, die in Marokko fest sitzen: Das Internationale Komitee für die Entwicklung der Völker (CISP) und Marokkos Institut für Migrationsforschung AMERM haben 2007 knapp 1.000 Flüchtlinge über das Jahr hindurch befragt. 15.000 zählt man in Marokko – zumeist in den Hafenstädten Tanger und Casablanca oder nahe der Zäune der spanischen Afrikaenklaven Ceuta und Melilla -, die auf ihre Chance warten, auf die andere Seite zu kommen. Fehlt das Geld, werfen sich manche auf Schwimmhilfen ins Meer. Kein Novum, aber steigend in der Tendenz.
Studienleiter Mohamed Khachani von der Universität Mohammed V. in Rabat und Malika Benradi schätzen, dass bis zu 200.000 MigrantInnen jährlich den Maghreb passieren. 70 Prozent versuchten, über Algerien und Libyen nach Italien zu gelangen, 30 Prozent auf direktem Wege nach Spanien.
Zumeist begeben sich Männer (80 Prozent) auf die knapp 5.000 Kilometer lange Odyssee, ein Fünftel sind Frauen. Dreiviertel aller haben einen Beruf erlernt, acht Prozent ein Studium absolviert. Perspektivenmangel und Geldnot sind für die große Mehrheit der Beweggrund, ein Zehntel zwangen Krieg und politische Verfolgung aus ihrer Heimat.
Zwischen 200 und 2.000 Euro kostet allein das Saharateilstück in Geländewägen. Das Gros der Flüchtlinge, die im Schnitt 27 Jahre alt sind, passieren bis zu sechs Länder, um nach Marokko zu gelangen. Zwei Drittel leben von Erspartem, drei Viertel werden von ihren Familien unterstützt, ein Viertel hat sich verschuldet und 20 Prozent leben vom Betteln. Nur jeder Zehnte kann sich durch Straßenhandel oder Gelegenheitsjobs etwas dazu verdienen.
Sie nächtigen in überfüllten und überteuerten Schlafräumen, zehn und mehr Menschen teilen sich zu zweit Betten in Mini-Zimmern. Das Martyrium, das Gatti am eigenen Leib nachvollzogen hat, spricht auch aus den Zahlen der Studie: Mehr als 80 Prozent litten Hunger wie Durst, zwei Drittel erkrankten schwer. 36 Prozent Frauen gaben an, vergewaltigt worden zu sein – und das teils vor den Augen ihrer Männer. JedeR Dritte sah einen Freund sterben, über zwei Drittel sahen auf dem Weg durch die Wüste Gerippe von Schicksalsgefährten.
„Positiv gemeinter Neid“ treibe laut Gatti die abertausenden MigrantInnen an. Die Suche nach einem besseren Leben, wofür sie bereit sind, alles zu opfern – ihr Leben inklusive, wie namenlose Gräber auf Friedhöfen der Kanaren oder in Süditalien zeigen: Eine Nummer, ein Datum und die Buchstaben D.E.P. – Ruhe in Frieden. Doch allen Schrecken zum Trotz wollen die meisten der in Marokko Befragten ihr „Projekt Europa“ weiterverfolgen, egal wie oft man sie zurückschicke – nach dem Motto „Europa oder Tod“. Lediglich zehn Prozent haben es satt, sie zieht es in die Heimat.