Nagelprobe für den Norden

Von Robert Poth · · 2001/11

Bei der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Doha könnten die reichen Länder zeigen, dass sie aus Seattle gelernt haben. Könnten.

Nichts mehr werde sein wie zuvor, hieß es oft nach dem von massiven Protesten begleiteten Scheitern des letzten WTO-Ministertreffens in Seattle Ende 1999. In einer Hinsicht stimmt das: die kommende WTO-Konferenz wird vom 9. bis 13. November in Doha, der Hauptstadt des Golfemirats Katar stattfinden, um eine Störung der Verhandlungen in Grenzen zu halten. Der Konflikt auf Regierungsebene ist jedoch der selbe und bislang ungelöst: Während die reichen Länder Verhandlungen über neue Themen wie Investitionen, Wettbewerbsregeln und Umwelt anstreben und Zugeständnisse im Landwirtschaftshandel davon abhängig machen, fordern die meisten Entwicklungsländer, zuerst ihre Benachteiligung durch die geltenden Welthandelsregeln zu beseitigen und sich auf die bereits beschlossene Liberalisierung im Agrar- und Dienstleistungshandel zu beschränken.

Zwei neue Faktoren kommen jedoch hinzu: Der weltweite wirtschaftliche Abschwung und die Terroranschläge vom elften September in den USA. Beides hat die Regierungen im Norden darin bestärkt, in Doha ein Zeichen der Kontinuität in der Liberalisierung zu setzen; gleichzeitig trifft die Wirtschaftskrise den Süden am schwersten. Viele Entwicklungsländer stehen mit dem Rücken zur Wand – vielleicht keine guten Voraussetzungen, um in Verhandlungen hart zu bleiben, auch wenn die aktuelle Krise sogar aufzeigt, dass die Handelsliberalisierung keine Patentlösung darstellt.

Denn der Niedergang ist überall zu beobachten, selbst in der High-Tech-Exportmetropole Singapur. Hier dürfte die Wirtschaft nach inoffiziellen Schätzungen im laufenden Jahr um zwei Prozent schrumpfen. In China wird zwar noch mit sieben bis acht Prozent Wachstum gerechnet, doch um die erforderlichen Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen, braucht das Land zweistellige Wachstumsraten, schätzt die Investmentbank Morgan Stanley – die sind nur möglich, wenn die Inlandsnachfrage angekurbelt wird.

In Lateinamerika wird besonders Mexiko von der US-Rezession mitgerissen, und Argentinien und Brasilien liegen bereits seit geraumer Zeit auf der „Intensivstation“ der internationalen Finanzinstitutionen, um einen Ausfall ihrer Schuldendienstzahlungen und damit eine „systemische Krise“ zu verhindern. Mit öffentlichen Ausgaben gegenzusteuern können sich viele Regierungen einfach nicht leisten. Und in den rohstoffexportierenden Ländern des Südens, den ersten Opfern jeder Rezession, herrscht derzeit in den Kaffeeanbaugebieten die schlimmste Krise seit 30 Jahren. Gute Ernten in Brasilien und das Angebot des mit Weltbankhilfe in den Markt gebrachten Vietnam haben den Rohkaffeepreis unter die Produktionskosten gedrückt. Insbesondere in Zentralamerika nehmen Hunger und Elend mit jedem Tag zu.

Woran das Ergebnis der WTO-Konferenz zu beurteilen wäre, hat die Entwicklungs-NGO Oxfam zu bestimmen versucht. Doha werde eine „Nagelprobe“ für die Verpflichtung der reichen Länder auf Entwicklung und für die Legitimität der WTO sein, warnte Oxfam, und nannte fünf Bedingungen, die der Norden als „Anzahlung“ für eine neue Liberalisierungsrunde erfüllen müsste:

• zoll- und quotenfreier Zugang für alle Exporte der ärmsten Ländern ab 2003

• Eliminierung aller Exportsubventionen für Landwirtschaftsprodukte bis 2003

• Zustimmung zu einer bindenden Auslegung des Abkommens über handelsbezogene geistige Eigentumsrechte (TRIPS) zugunsten der öffentlichen Gesundheitsversorgung und eine Verpflichtung zur Überprüfung von TRIPS

• Abstellung des protektionistischen Missbrauchs von Anti-Dumping-Regeln insbesondere durch die USA

• eine wesentliche Erhöhung der Mittel an Entwicklungsländer für handelsbezogene technische Hilfe und kapazitätsbildende Maßnahmen.

Wie viel davon ist in Sicht? Vorerst wenig. Ende September präsentierte der Vorsitzende des Allgemeinen Rats der WTO, Stuart Harbinson (Hongkong), einen Entwurf einer Ministererklärung für Doha, der vom Third World Network (TWN) in Malaysia als „äußerst enttäuschend“ und als „Schlag ins Gesicht“ für Afrika bezeichnet wurde. Der Harbinson-Text sei aus mehreren Gründen abzulehnen, so Martin Khor vom TWN in einer Analyse: Die Unausgewogenheit der bestehenden Abkommen würde nicht anerkannt; es gebe weder Verpflichtungen der Industrieländer zu mehr Marktzugang insbesondere in der Landwirtschaft noch zur Lösung von Problemen mit der Implementierung bestehender Abkommen (etwa betreffend das Verhältnis von TRIPS und der Biodiversitätskonvention oder in der Frage der Pharmapatente), und der Text fördere die Aufnahme neuer Themen wie Investitionen, Wettbewerb, Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen usw.

Um die Gegensätze zu überbrücken, fand Mitte Oktober ein informelles WTO-Ministertreffen in Singapur statt, an dem 21 ausgewählte Länder teilnahmen – eine altbewährte Taktik. Im kleinen Kreis sollte offenbar „Einigkeit“ hergestellt und damit Druck auf die mehr als 140 WTO-Mitglieder ausgeübt werden. Zusammen mit der Abstimmung über die Aufnahme Chinas und Taiwans in die WTO, eine reine Formsache, wäre damit ein Paket geschnürt, das als Erfolg von Doha präsentiert werden kann.

Tatsächlich verkündete Singapurs Handelsminister George Yeo nach dem Treffen gegenüber der Presse, die Ministererklärung sei zu „85 bis 90 Prozent“ geklärt, und die Länder seien sich bewusst, „dass die Landwirtschaft gegen andere Themen der Agenda abgetauscht werden muss“. Statt von einer „neuen Runde“ wird nun von einer „neuen Entwicklungsagenda“ gesprochen; der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick berichtete, man habe sich auf den Harbinson-Text als Basis geeinigt („wir sind sehr erfreut“), und EU-Handelskommissar Pascal Lamy schwärmte überhaupt vom Verhandlungsklima in Singapur: verglichen mit vor Seattle sei es „wie Tag und Nacht“.

Indiens Handelsminister Murasoli Maran meinte dagegen, das Treffen sei „nicht nach unseren Erwartungen“ verlaufen, und Indien wünsche noch viele Verbesserungen. Die Rede von der „neuen Entwicklungsagenda“ bezeichnete Maran als „unangemessen“: Seien Investitionen ein Entwicklungsthema? Oder Wettbewerbsregeln? „Was auch immer geschieht … das ist ein informelles Treffen von 20 oder 21 Ländern. Mehr als 100 Länder fehlen noch … daher wollen wir mehr Transparenz, mehr Demokratie, mehr Beratungen.“

Ein nochmaliges Scheitern nach Seattle ist also nicht ausgeschlossen – ein Anzeichen: Malaysia nahm als einziges eingeladenes Land offenbar aus Protest nicht am Treffen in Singapur teil. Dies wäre durchaus nach dem Wunsch vieler GlobalisierungsgegnerInnen, die weltweite Aktionen gegen das WTO-Treffen in Doha angekündigt haben. Die NGO-Koalition „Peoples Global Action“ etwa beschloss bei einem Treffen im bolivianischen Cochabamba einen Aktionsaufruf unter dem Motto „They can run, but they can’t hide: we’re everywhere“. Und wichtige Gewerkschaftsverbände, darunter der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, haben erstmals zu einem weltweiten Aktionstag am 9. November, dem ersten Tag der WTO-Konferenz aufgerufen. Sie stellen allerdings die Forderung nach einer „neuen Globalisierung“ ins Zentrum, die neben der Beachtung der grundlegenden ArbeiterInnenrechte auch insbesondere öffentliche Dienste wie etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich vor einer „Liberalisierung“ nach den Regeln des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) bewahrt – ein Ziel der laufenden WTO-Verhandlungen, das im Nord-Süd-Konflikt derzeit kaum eine Rolle spielt.

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