Moskaus langer Arm

Von Peter Böhm · · 2005/09

Um die Republik Tadschikistan ist es ruhig geworden seit den Bürgerkriegswirren im vergangenen Jahrzehnt. Hier hat sich die sowjetische Herrschaft unverfälscht erhalten – selbst der neue Nationalheld Somoni trägt Lenins Züge.

Mirzokhodscha Ahmadow, der Chef der 6. Spezialabteilung der Polizei zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Garm, hat rote Augen und stecknadelgroße Pupillen. Er spricht so langsam, als habe ihn jemand betäubt, und sieht so aus wie ein Mafia-Pate in russischen Filmen. Er hat einen Stiernacken, einen breitbeinigen Gang, schwarze Stiefletten an den Füßen und eine schwarze Lederjacke um die Schultern. Wie es der Zufall so will, verläuft nach Informationen des UN-Büros zum Kampf gegen Drogen und Verbrechen (UNODC) die wichtigste tadschikische Drogenschmuggel-Route durch die kleine Stadt.
Ahmadow und ein paar weitere Mudschahedin im Staatsdienst sind der klägliche Rest der islamistischen Bewegung Tadschkistans. Einst war das Garm-Tal, östlich der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe gelegen, die Hochburg der Vereinigten Tadschikischen Opposition (UTO). Im Bürgerkrieg (1992–1997) kontrollierte sie das enge Flusstal und regierte es nach ihrem Gusto. Heute jedoch kann das Garm-Tal als das deutlichste Beispiel dafür gelten, dass der Islam in der Politik der zentralasiatischen vormaligen Sowjet-Republik seine Anziehungskraft verloren hat. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass Tadschikistan zur Normalität zurückgekehrt ist, das heißt Repression gegenüber dem politischen Islam und allen oppositionellen Strömungen.
Dafür sprechen auch die Nachbarschaftsmoscheen in Garm. In dem Städtchen mit 3.500 EinwohnerInnen gibt es acht davon. Alle wurden nach der Unabhängigkeit gebaut, und alle sind ein Zeichen für den moderaten Volks-Islam mit starken Sufi-Einflüssen, der schon vor der Sowjetzeit in Zentralasien vorherrschend war. Die Moschee des Imams Loite Nasirow, am Südrand Garms, ist auf den ersten Blick überhaupt nicht als islamisches Gebetshaus zu erkennen. Es gibt keine Halbmonde auf dem Wellblechdach, im Inneren sind keine Gebetsteppiche ausgelegt, und sie hat kein Minarett. Vielmehr sieht sie aus wie ein Vereinsheim, und die BesucherInnen nennen sie noch so wie in der Sowjetzeit, als es in vielen Ortschaften Tadschikistans geheime Moscheen gab, „Club“ oder „Tschaichona“ – Teehaus. Hierher kommen die Männer der Nachbarschaft, um zu beten, zu reden, Tee zu trinken und nicht selten wird auch eine Hochzeit gefeiert. Die Moschee steht auch Nicht-Muslimen offen.
Die islamische Opposition aus der Zeit des Bürgerkriegs ist noch immer ein Tabu-Thema in Tadschikistan, sagt der stellvertretende Chef des UN-Entwicklungsprogrammes (UNDP) in Garm, Saimuddin Muhidinow: „Ich denke, dass sich viele unserer Landsleute heute für den Krieg schämen. Wie auf einmal die Clanzugehörigkeit über Freundschaft oder Feindschaft entschieden hat, daran will heute niemand mehr erinnert werden.“

Das UNDP hat nach dem endgültigen Friedensschluss 1999 geholfen, mehr als 4.000 Mudschahedin ins zivile Leben zu reintegrieren. Landesweit waren es nach Regierungsangaben mehr als 7.000.
600 Kämpfer aus dem Garm-Tal wurden in die Regierungsarmee aufgenommen, und 200 weitere, wie der Ex-Mudschahedin-Kommandant Ahmadow, in Polizei und Verwaltung. Das hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in Tadschikistan nach dem Bürgerkrieg, anders als bisher in Afghanistan, wieder feste staatliche Strukturen entstanden sind.
Außerdem hat sich die wichtigste Kraft der ehemaligen bewaffneten Opposition, die Partei der Islamischen Wiedergeburt (PIW), in eine politische Partei verwandelt. Das Friedensabkommen von 1997 sah vor, dass die Opposition 30 Prozent der Ämter in Regierung und Verwaltung bekommen sollte. Obwohl der tadschikische Präsident Emomali Rachmanow, seit 1992 im Amt, inzwischen fast alle potenziellen Rivalen aus der Regierung eliminiert und die Opposition völlig marginalisiert hat, betont die PIW-Spitze unablässig, dass die Erhaltung des Friedens wichtiger sei als alles andere. Und obwohl unabhängige Medien und WahlbeobachterInnen in Tadschikistan über noch offensichtlichere Fälschungen bei den Parlamentswahlen als bei denen in Kirgistan berichteten – sie fanden heuer am selben Tag im März statt –, beschränkte sich die Opposition in Tadschikistan darauf, Beschwerde beim Obersten Gerichtshof einzulegen, anstatt zu Protesten aufzurufen.
Muhidin Kabiri, der seit der Krankheit des PIW-Chefs Said Abdullah Nuri die Partei in der Öffentlichkeit vertritt, ist, obwohl streng gläubig, vermutlich der tadschikische Politiker mit den westlichsten Umgangsformen. Während des Bürgerkrieges war er im Exil, und heute schwebt ihm für Tadschikistan ein Verhältnis zwischen Staat und Religion wie in der Türkei oder in Indonesien vor. „Das Wichtigste in unserem Land ist, dass Ruhe und Frieden herrschen“, sagte er nach dem Umsturz Ende März in Kirgistan. „Die Tadschiken wollen vor allem den Bürgerkrieg vergessen.“

Doch das ist nicht so einfach. Denn Tadschikistan, ein Land mit nur sieben Millionen EinwohnerInnen, hat schon immer zu den am schwächsten entwickelten Regionen der Sowjetunion gehört. Und der Bürgerkrieg hat das Land noch weiter zurückgeworfen. Die natürlichen Voraussetzungen Tadschikistans sind denkbar ungünstig. Die gesamte Osthälfte des Landes liegt im Hochgebirge, rund zwei Drittel seines Bodens liegen über 2.000 Meter, und nur knapp sieben Prozent der gesamten Fläche ist bebaubares Land. Fast 60 Prozent der TadschikInnen leben unter der Armutsgrenze, und Tadschikistan ist das Land in Zentralasien, das am stärksten von Russland abhängig geblieben ist.
Die 15.000 russischen Soldaten der 201. motorisierten Division haben auch nach der Unabhängigkeit nie das Land verlassen und während des Bürgerkrieges eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass die islamistische Opposition nicht die Hauptstadt Duschanbe einnehmen konnte. Im Jahr 2004 schlossen beide Länder ein Abkommen, das den Standort der 201. Division in eine offizielle russische Militärbasis verwandelt. Aber Russland musste dafür auch teuer bezahlen. Es versprach, mehrere hundert Millionen Euro in Ragun, südöstlich von Duschanbe, in den Bau eines Wasserkraftwerkes und des zweitgrößten Staudammes der Welt zu investieren. Dafür bekommt es einen Teil des Aktienpaketes der Anlage.

Aber Russland spielt noch eine andere wichtige Rolle für die tadschikische Wirtschaft, denn bis zu einer Million tadschikische Männer arbeiten dort –vor allem als Hilfsarbeiter. Das bedeutet, jeder dritte Tadschike im erwerbsfähigen Alter verdient sein Geld in Russland. Ihre Rücksendungen machen jährlich 400 Millionen US-Dollar aus und damit einen erheblichen Teil des tadschikischen Bruttosozialprodukts. Ohne diesen Devisenzufluss würde die tadschikische Währung wohl kollabieren.
Genau wie in Usbekistan jedoch, wo das Festhalten am sowjetischen System in der Region am deutlichsten ist, hat der ehemalige Kolchos-Vorsitzende Rachmanow entlang der tadschikischen Straßen inzwischen patriotische Sinnsprüche aufstellen lassen. Und genau wie die usbekische Regierung Tamerlan, den asiatischen Tyrannen des 14. Jahrhunderts, auf den nach der Unabhängigkeit freigewordenen Schild gehoben hat, hat Rachmanow einen alten Herrscher aus der tadschikischen Geschichte ausgegraben: Ismael Somoni, einen persisch-sprachigen König des 10. Jahrhunderts, dessen Reich sich über weite Teile des heutigen Zentralasiens erstreckte. Die tadschikische Währung wurde nach ihm benannt, der höchste Berg des Landes, der fast 7.500 Meter hohe Pik Kommunismus, wurde zum Pik Somoni, und die ex-sowjetischen Kinder-Pioniere sind nun „Somonis Erben.“

„Wenn Sie in Tadschikistan Karriere machen wollen, müssen Sie in Rachmanows Volksdemokratische Partei eintreten“, sagt der tadschikische Politologe und Journalist Nurali Daulatow. „Abgesehen vom Namen lebt in Tadschikistan das sowjetische System fast unverändert weiter.“ Und auf dem zentralen Platz, gegenüber dem Außenministerium, wurde Somoni eine fast zehn Meter hohe Statue errichtet. Sein ausgestreckter Arm und sein forscher Schritt kommen einem sofort bekannt vor: Es ist die Pose Lenins, wie man ihn noch in fast jedem Park in Tadschikistan sehen kann.


AutorenInfo:Peter Böhm lebte und arbeitete bis vor kurzem als Zentralasien-Korrespondent verschiedener deutschsprachiger Medien in Usbekistan und übersiedelte vor kurzem nach Los Angeles, Kalifornien, von wo aus er sich auf die Berichterstattung über die Südsee und Lateinamerika konzentrieren wird.


Im Wiener Picus-Verlag erschien soeben sein Reportagenband über Zentralasien, den wir in der nächsten Südwind-Ausgabe vorstellen werden.

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