Mehrere Länder Lateinamerikas anerkennen die Jurisdiktion indianischer Gemeinschaften. Dabei werden sowohl Fragen der Zuständigkeit, als auch der Geltung übergeordneter Grundrechte aufgeworfen.
Fast alle Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zeichnen sich durch einen faktisch bestehenden Rechtspluralismus aus. Dem formell geltenden staatlichen Recht, das sehr oft inhaltlich von den Rechtssystemen der ehemaligen Kolonialmächte geprägt ist, stehen besonders bei Regelung von Alltagskonflikten regionale Rechtsordnungen gegenüber. In vielen Ländern Afrikas oder Asiens kommen dazu noch religiös fundierte Rechtsstrukturen, die vor allem im lokalen Familien- oder Erbrecht, zunehmend aber auch im Strafrecht eine Revitalisierung erfahren.
Während jedoch vor allem in vielen afrikanischen Staaten die Vielfalt nebeneinander bestehender Rechtsordnungen schon seit langem eine auf die Kolonialverwaltung zurückgehende offizielle Anerkennung findet, zeichneten sich die Staaten Lateinamerikas seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch eine formelle Ausblendung der so genannten „Gewohnheitsrechte“ aus.
Nach der Unabhängigkeit konstituierten die neuen Eliten ein republikanisch-frühliberales System, durch welches die formelle Gleichstellung aller BürgerInnen vor dem Gesetz eingeführt wurde. Gleichzeitig wurden dadurch jedoch die Besonderheiten der indigenen und afroamerikanischen Gesellschaften aus dem offiziell geltenden Recht ausgeblendet. Nicht nur, dass das staatliche Recht keine Mechanismen vorsah, welche den Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppen erlaubt hätten, ihre kulturellen Besonderheiten wie etwa die traditionelle Beziehung zum Land rechtlich zu schützen. Das – ausschließlich geltende – staatliche Recht illegalisierte auch die unter den indigenen Völkern überlieferten Institutionen gesellschaftlicher Konfliktlösung.
Erst in den letzten beiden Jahrzehnten ist es in vielen Staaten Lateinamerikas unter dem Druck der Bewegung der ethnischen Gruppen zunehmend zu einer Anerkennung indigener Rechtsprechung gekommen. Voraussetzung dafür waren weitgehende Verfassungs- und Gesetzesreformen, die die Staaten als politischen Ausdruck ihrer plurikulturellen und multiethnischen Realität neu definierten.
Die den indigenen Völkern nunmehr gegebenen Möglichkeiten, durch ihre Autoritäten eine auf eigenen Normen beruhende Rechtsprechung ausüben zu können, haben dabei besondere Bedeutung.
Bei indigenen Normsystemen haben wir es nicht mit einer indigenen Rechtsordnung zu tun, sondern alleine im lateinamerikanischen Raum mit vielen hunderten. Dennoch werden besonders von VertreterInnen der indigenen Völker bestimmte Merkmale ihrer rechtlichen Ordnungen betont, die sie vom westlichen Recht unterscheiden:
Gegenseitigkeit und Konsens prägen ganz allgemein die Beziehungen von Angehörigen dieser Rechtsgemeinschaften, besonders aber auch die Ausübung von Autorität;
Konflikte werden auf Grund diskursiver Partizipation aller Betroffenen, nicht aber primär auf Grundlage abstrakt zur Anwendung kommender Normen entschieden;
Recht ist nicht deutlich als gesellschaftliches Subsystem ausdifferenziert, sondern in hohem Masse mit der indigenen Weltanschauung (cosmovisión) verflochten, in welcher Mensch, Natur und Kosmos normativ verbunden sind.
Es entsteht ein falscher Eindruck, wenn die Konfliktlösungssysteme der indigenen Völker oftmals als traditionelles Gewohnheitsrecht angesehen werden. Die indigenen Rechtssysteme müssen vielmehr als zeitgenössische Erscheinungen verstanden werden, die zwar in historischer Kontinuität zu vorkolonialen Rechtssystemen stehen, sich aber in einer langen Geschichte im Zuge einer – meist konflikthaften – Auseinandersetzung mit dem dominanten System verändert haben. Das Nebeneinandergelten wertmäßig sehr verschiedener Rechtsysteme führt in der Praxis zu vielfältigen Abgrenzungsfragen.
Wenig systematisch geklärt sind die Grenzen der persönlichen und räumlichen Geltung des indigenen Rechts. Sollen nur Angehörige der indigenen Gemeinschaften oder auch Fremde dem indigenen Recht unterworfen werden können? Die Beantwortung dieser Frage wird davon abhängen, wie man ganz grundsätzlich die Geltung des indigenen Rechtes legitimieren wird.
Eine Möglichkeit für dessen Begründung geht vom persönlichen Anspruch jedes Menschen aus, bei Rechtsentscheidungen so weit wie möglich auf Basis seiner eigenen kulturellen Werte und Institutionen beurteilt zu werden. Da dieser Grundsatz aber auch für nicht-indigene Personen Geltung beansprucht, wäre es schwer, die indigene Rechtsprechung auf Fremde auszudehnen.
Ein alternativer Ansatz begründet die Geltung des indigenen Rechtes damit, dass es sich um ein bedeutsames Vehikel für kulturelle Autonomie und selbständige politische Weiterentwicklung handelt. Bei diesem Ansatz steht also vor allem das Interesse der indigenen Völker als Gruppe im Mittelpunkt, und er kann leichter begründen, dass die Jurisdiktionsausübung der indigenen Autoritäten nicht vor Fremden haltmacht, zumindest soweit sich bestimmte offensichtliche Anknüpfungskriterien ergeben. Indigene Völker könnten ein besonderes Interesse an der Beurteilung von Handlungen Fremder mit negativen Gemeinschaftsauswirkungen haben, die erfahrungsgemäß von der nicht-indigenen Justiz nur unzureichend wahrgenommen werden, man denke etwa an die Verletzung heiliger Stätten oder an die Beeinträchtigung gemeinsamen traditionellen Wissens.
In der lateinamerikanischen rechtlichen Praxis herrscht keine Einheitlichkeit bei der Lösung derartiger Abgrenzungsprobleme. Die vorangehenden Ausführungen sollen jedoch aufzeigen, wie Rechtsfragen indigener Völker komplizierte Gesichtspunkte von gegenläufigen Einzelansprüchen und kollektiven Interessen aufwerfen.
Noch deutlicher wird diese Schnittstelle bei der Frage der Bindung der indigenen Rechtsprechung an universelle menschenrechtliche Standards. Das Problem wird evident, wenn man bedenkt, dass in Ländern wie Ecuador oder Kolumbien, deren Staatsverfassungen das Recht der indigenen Völker auf Ausübung eigenständiger Jurisdiktion anerkennen, gleichzeitig fundamentale Grundrechte jedes einzelnen Bürgers verfassungsrechtlich verankert sind.
Schon bei Erarbeitung des neuen verfassungsrechtlichen Rahmens stellten sich einzelne VertreterInnen der indigenen Völker ganz grundsätzlich gegen die Bindung ihrer eigenen Autoritäten an die – wie sie es zum Ausdruck brachten – „westlichen Grundrechte“. Die Frage hängt mit der im Nord-Süd-Diskurs bekannten Polemik um die Universalität der Menschenrechte zusammen.
Sind nicht-westliche Kulturen legitimerweise an Menschenrechte gebunden, die sich in ihrer bekannten modernen Form im Rahmen der sozialen Probleme der (industrialisierten) westlichen Nationen herausgebildet haben?
Die lateinamerikanischen Staatsverfassungen sehen, trotz Anerkennung der indigenen Rechtsautonomie, eine prinzipielle Bindung derselben an die öffentliche verfassungsmäßige Ordnung vor. Eine bemerkenswerte Rechtsprechung zu der Frage hat in den letzen Jahren das Verfassungsgericht Kolumbiens entwickelt.
Nach Ansicht des Gerichtes sind die Indianervölker nicht an alle Gesetze oder Verfassungsgesetze Kolumbiens gebunden, sehr wohl aber an jenen Kern von Grundrechten, der auf Werten beruht, die nach Ansicht der Richter in allen Kulturen der Menschheit verankert sind. Aus diesem Grunde könne die Bindung an diese Kern-Grundrechte nicht als Aufoktroyieren fremder Werte angesehen werden.
Als universeller Wert, der in diesem Sinne auch für die indianische Rechtsprechung bindend ist, betrachtet das Verfassungsgericht Kolumbiens beispielsweise den Anspruch eines Angeklagten auf ein faires Verfahren. Dieses Recht sei jedoch interkulturell zu verstehen und das Procedere indianischer Instanzen müsse nicht notwendigerweise formell den Bestimmungen des staatlichen kolumbianischen Rechtes entsprechen, wie das Gericht in einem Judikat ausführte.
Weitere Grenzen für die indianische Rechtsprechung sieht das Verfassungsgericht im Verbot der Anwendung der Folter oder der Verhängung von Sklaverei als Strafsanktion.
In einem 1998 entschiedenen Fall wurde das von Autoritäten der Arhuaco-IndianerInnen der Sierra Nevada de Santa Marta ausgesprochene Verbot der Ausübung des evangelikal-christlichen Pfingstbekenntnisses innerhalb des Indianerterritoriums als legitim anerkannt. Das Verfassungsgericht traf eine Abwägung zwischen dem individuellen Recht von einzelnen christlichen IndianerInnen auf Religionsfreiheit und dem Recht des Arhuaco-Volkes als Ganzes auf Bewahrung seiner kulturellen Identität. Da die Autoritäten durch die Aktivitäten der christlichen IndianerInnen die öffentliche heilige Ordnung ihres Volkes gefährdet sahen, gestanden die Richter des kolumbianischen Verfassungsgerichtes den traditionellen Autoritäten sogar die Anwendung von Strafsanktionen zur Durchsetzung ihres Verbotes zu.
René Kuppe ist ao. Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit den Rechten indigener Völker.