Einst erstickte der Ort Armero in Kolumbien unter einer Geröll-Lawine. Heute wird dort im Rahmen eines SOS-Kinderdorf-Projekts ökologischer Landbau unterrichtet und der Grundstein zu einer weniger gewalttätigen Gesellschaft gelegt.
Wir befinden uns in einer klassischen Kaffeeanbauregion in der Nähe von Manizales, im Norden des Departements Tolima. Bauer Ituriel hat auf einem Plakat eine Landkarte seiner „Finca“, seines kleinen Gutes, skizziert und darauf auch die Problembereiche seiner Arbeits- und Lebenswelt angegeben. Die materiellen, wie Wasser, Wald, Vermarktung, und die immateriellen, zum Beispiel die Mann-Frau-Beziehung. Auf einem zweiten Plakat hat er die von ihm gefundenen Lösungen oder Lösungsversuche für diese Problembereiche aufgeschrieben. Die stellt er nun der Gruppe vor.
Einige Bauern führen den Gast aus Österreich über ihre Grundstücke und zeigen, welche Maßnahmen sie im Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft gesetzt haben. Alle haben einen eigenen Garten mit Kleinvieh und Gemüse für den Eigenkonsum angelegt, und alle haben erste Versuche mit organischem Kaffee begonnen. Auch eine eigene Kompostanlage haben alle; der Naturdünger wird selbst hergestellt. Walter hat in seinem Hausgarten Bohnen, Erbsen, Paprika, Tomaten und Zwiebel gepflanzt. Er ist stolz darauf, den Eigenkonsum bereits großteils decken zu können.
Die 22-jährige Johana, die „Lehrerin“, ist die jüngste in der Gruppe, genießt aber dank ihres Wissens und ihrer Persönlichkeit spürbar Autorität. Sie vermittelt ihre Kenntnisse in konkreter, einprägsamer Form, ohne Überheblichkeit, ohne belehrenden Ton. Dabei erweist sich als großer Vorteil, dass sie eine der ihren ist: Johana kommt aus einer ganz armen Bauernfamilie und konnte nur fünf Jahre Volksschule besuchen.
Vor vier Jahren kam sie mit „SOS Aldea de Nińos“ in Verbindung. Hinter diesem Namen verbirgt sich „SOS Kinderdorf“, der größte soziale Exportschlager Österreichs in der Nachkriegszeit. In Kolumbien gibt es bereits vier an der Zahl, doch die aus einer ländlichen Großfamilie stammende Johana landete nicht in einem Kinderdorf, sondern in der „Escuela Granja Agroecológica“. Das ist ein Ausbildungszentrum, in dem Jugendliche aus ganz Kolumbien in einem 18-monatigen Kurs in biologischer und nachhaltiger Landwirtschaft ausgebildet werden. Es hat mittlerweile für das ganze Land Modellcharakter. Sein Direktor, Alvaro Acevedo, wurde als Vortragender zu der im August in Basel veranstalteten Weltkonferenz von IFOAM, dem „Internationalen Verband von organischen Agrarbewegungen“, eingeladen.
Am Anfang stand eine Katastrophe. Es gibt nicht mehr viele Menschen aus dem ehemaligen Armero, die sich an jenen 13. November 1985 erinnern können. Um drei Uhr nachts überrollte eine riesige Geröll-Lawine die vier Autostunden nordwestlich von Bogotá gelegene Kleinstadt. Fast die gesamte Bevölkerung, an die 25.000 Menschen, kam unter den Steinmassen ums Leben.
Schon Tage vorher war in dem 5400 m hohen Gletschervulkan Nevado del Ruiz ein verdächtiges Rumoren zu vernehmen gewesen. Doch niemand hatte an die Möglichkeit gedacht, dass sich eine Todeslawine bis in das etwa 20 km Luftlinie entfernte Armero ergießen könnte. Daraufhin folgte die Hilfslawine. Zahlreiche internationale Organisationen kümmerten sich um die Überlebenden, darunter auch SOS Kinderdorf.
Ein Gönner spendete im benachbarten Ort Guyabal ein 17 Hektar großes Grundstück, auf dem ein Heim und eine Ausbildungsstätte für überlebende Jugendliche errichtet wurden. Doch die jungen Katastrophenopfer wollten lieber weg vom Ort des Unheils als dort eine agrartechnische Ausbildung erfahren. So wurde nach sechs Jahren das Wagnis einer völligen Umstellung begonnen, und zwar der Umgestaltung in eine Schule für nachhaltige Landwirtschaft, offen für Jugendliche aus dem ganzen Land.
Es war eine schwierige Zeit, erzählt der immer noch junge Direktor Alvaro Acevedo. Man musste bei Null beginnen, denn es gab in ganz Kolumbien keine vergleichbaren Experimente. Lehrpläne waren auszuarbeiten und Lehrkräfte zu schulen. Schliesslich musste auch das gesamte Gelände in ein Laboratorium für organische Landwirtschaft umgestaltet werden. Es ist heute beeindruckend, bei einem Rundgang zu erleben, wie jeder Quadratmeter des bebauten Bodens seinen Beitrag zu einem riesigen Recycling der Natur leistet. Der Guaven-Baum liefert nicht nur Früchte, die zu einer schmackhaften Marmelade verarbeitet werden, sondern spendet auch Schatten, den eine andere Pflanze benötigt. Die Blätter des Neem-Baumes dienen der natürlichen Schädlingsbekämpfung und haben heilmedizinische Wirkung. Sesam ist ein Grundbestandteil für die Herstellung der „turrones“, einer beliebten Süßigkeit; die Schoten landen auf dem Kompost. Nichts, was nicht auf natürliche Weise zwei oder drei Mal wieder verwendet würde.
Die Jugendlichen, die sich zum „agroökologischen Promotor“ ausbilden lassen wollen, benötigen Grundkenntnisse in Schreiben und Rechnen und, als wichtigste Voraussetzung, die Unterstützung einer Organisation, in die sie nachher die erworbenen Kenntnisse zurückfließen lassen.
Der Arbeitstag beginnt um halb sechs Uhr morgens mit Aufräumen und Putzen und dauert bis neun Uhr abends, wobei Sport oder kulturelle Aktivitäten den Abschluss bilden. Sechs Tage die Woche, und sogar am Sonntag gibt es noch Programm. Das Studium selbst ist kostenlos bzw. die Jugendlichen erhalten von SOS-Kolumbien ein Stipendium.
Die dreisemestrige Ausbildung umfasst nicht nur Fachunterricht, sondern auch kulturelle und kunsthandwerkliche Aktivitäten und etwas, was man am besten mit Sozial- und Ethikunterricht übersetzen könnte. Jede/r soll Selbstwertgefühl sowie individuelle und kollektive Identität entwickeln. Man lernt Konfliktregelung, Sexualkunde, Prävention von Drogen- und Alkoholmissbrauch. Da immer mehr Frauen in die Kurse eintreten, ist auch der Umgang zwischen den Geschlechtern ein wichtiges Thema.
In der „Escuela Granja Agroecológica“ scheinen die Uhren anders zu laufen als im übrigen Kolumbien. Hier herrscht eine Stimmung des Friedens und des konstruktiven Zusammenlebens, während das übrige Land im Bann des prekären Friedensprozesses zwischen der Regierung und den Guerilla-Organisationen FARC und ELN steht. Die Verhandlungen laufen zwar seit bald zwei Jahren, doch ein Abkommen zur Beendigung des jahrzehntelangen gewalttätigen Konflikts ist noch nicht in Sicht. So leidet die Bevölkerung, vor allem auf dem Land, weiterhin unter Vertreibung und Massakern durch die rechten Paramilitärs, unter Überfällen der Guerilla, die ihre Einflusszonen zu vergrößern trachtet, und unter den Entführungen, die für alle bewaffneten Akteure zu einer beliebten Geldbeschaffungspraxis geworden sind. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden über 1500 Personen verschleppt; mehr als 100 kamen dabei ums Leben.
Bis jetzt haben knapp über 100 Jugendliche die 18-monatige Ausbildung erfolgreich beendet, wie Johana, die vor drei Jahren ihr Abschlussdiplom erhielt. Nunmehr vermittelt sie ihre erworbenen Kenntnisse weiter. Und nebenbei lernt sie an den Wochenenden für die Matura. Ihr Bruder Alex hat ebenfalls die SOS-Schule absolviert und die Mittelschule nachgemacht. Er ist nun selbst Lehrer an der Granja und studiert im Fernunterricht Psychologie. Zwei Geschwister der Familie Angarita, denen nichts als die Fortsetzung der Armut in die Wiege gelegt war.
SÜDWIND-Redakteur Werner Hörtner nützte seinen Sonderurlaub (noch bis Jahresende) unter anderem zu einer Studienreise nach Kolumbien.
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