Die kommenden Olympischen Spiele in Beijing fallen mit dem 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zusammen. Auch in Folge des „Krieges gegen den Terror“ ist es heute um die Menschenrechte weltweit schlecht bestellt.
Wenn das Foltern einer einzigen Person das Leben von tausend anderen retten könnte, wäre es gerechtfertigt? Es ist nicht einfach, "Nein" zu sagen. Gesagt werden muss es aber trotzdem, denn Folter hat niemals irgendjemanden vor irgendetwas gerettet; vor keiner einzigen Bombe eines Selbstmordattentäters, vor keiner einzigen terroristischen Tat oder einem Schicksal, das noch schlimmer ist als die Folter selbst. Warum sollte also irgendjemand aufgefordert werden, anzunehmen, dass es doch so wäre? Wer kann das glauben?
Moral und Glaube mögen wichtig sein, aber ohne Wissen und Vernunft sorgen sie ziemlich bald für ein tragisches Schlamassel. Der so genannte Krieg gegen den Terror ist ein bezeichnendes Beispiel. Die Invasion im Irak erfolgte aufgrund mutmaßlicher Massenvernichtungswaffen, die es tatsächlich nicht gab. Wenn ein US-Präsident sich anmaßt, TerroristInnen zu verurteilen oder "feindliche Kombattanten" zu erfinden, dann wird das wahrscheinlich noch tragischere Folgen haben. Drei Viertel der aus Afghanistan und Pakistan nach Guantánamo Bay ("kein Teil der USA") entführten Menschen waren nicht einmal mutmaßliche TerroristInnen, sondern Taxifahrer und andere, die mehr oder weniger zufällig festgenommen wurden, oft von lokalen Kopfgeldjägern wegen der saftigen Belohnung, die in 80 Millionen aus der Luft abgeworfenen Flugblättern versprochen wurde. (1)
Eine unbekannte Zahl von Menschen wurde Opfer des "Verschwindenlassens", um aus ihnen mittels Folter nutzlose Informationen herauspressen zu können – eine Art Neuinszenierung der Praktiken unter den Militärdiktaturen Lateinamerikas, die genau deshalb Gegenstand eines einschlägigen internationalen Verbots wurden.
Im "Homeland" USA sind die Verfassung und die Bill of Rights bloß lästige Hürden für IdeologInnen, die die Anschläge vom 11. September 2001 nicht als Katastrophe, sondern als Geschenk Gottes betrachten. Der Patriot Act, bloß sechs Wochen danach verabschiedet , brachte eine massive Erweiterung der Machtbefugnisse der Exekutive, ohne dass auch nur im Geringsten seriös geprüft worden wäre, ob und wie genau solche Vollmachten die ursprüngliche Katastrophe hätten verhindern können.(2) Wuchernde, niemandem verantwortliche Privatarmeen wie Blackwater (siehe auch Südwind-Thema 3/2008) erschießen nicht nur Zivilpersonen im Irak, sondern gehörten zu den ersten, die nach dem Hurrikan Katrina in voller Montur in New Orleans auftauchten.(3)
All das deutet darauf hin, dass der Krieg gegen den Terror nicht nur moralisch abwegig ist, sondern jeder rationalen Grundlage entbehrt. Er beruht schließlich auf der Idee, dass die "nationale Sicherheit" irgendwie über den Menschenrechten stünde. Selbst unter der Annahme, dass Menschenrechte handelbare Waren wären, was sie nicht sind, kann das Geschäft nicht funktionieren, denn Menschenrechte und die Sicherheit der Menschen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander. Je weniger die Menschenrechte geachtet werden, desto höher ist die wahrgenommene Unsicherheit – und umso rascher dreht sich die Eskalationsspirale des Kriegs gegen den Terror.
Selbstmordanschläge wie die vom 11. September sind verabscheuungswürdig, aber nichts wird weniger zu ihrer Bekämpfung beitragen wie eine unverhältnismäßige Reaktion, die aus dem gleichen Holz geschnitzt ist. Zumindest seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist es niemandem gelungen, das Gegenteil zu beweisen, so viele sich auch eifrigst darum bemüht haben.
Es war sicher ein langsamer und frustrierender Prozess, aber in Sachen Menschenrechte ist ein stetiger und substanzieller Fortschritt zu verzeichnen. Der Schutz des internationalen Rechts wurde schrittweise auf Frauen, ethnische Gruppen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, MigrantInnen und indigene Völker ausgedehnt. Im Gefolge der Wiener Konferenz von 1993 begannen internationale Gerichte und Tribunale endlich, kleine Tyrannen und Psychopathen zu verfolgen, die es nun nicht mehr so leicht haben werden, ihre ausländischen Nummernkonten sprießen und gedeihen zu lassen.
Trotzdem fällt der 60. Jahrestag der Erklärung in eine Zeit, die die schlimmste ihrer Geschichte sein könnte, wohl treffender charakterisiert durch die abstoßende Hinrichtung Saddam Husseins als durch den Sturz eines bösartigen Diktators. Wir sind in ein "Amerikanisches Zeitalter" des endlosen Kriegs eingetreten, der hauptsächlich von genau jenen Staaten geführt wird, die mit der Erklärung von 1948 das Ziel verfolgten, Kriege überhaupt zu verhindern.
Nicht dass es nichts mehr zu tun gäbe. Zwar ist der Kalte Krieg zu Ende, doch die in der Erklärung formulierten "kollektiven" Rechte, d.h. die sozialen und wirtschaftlichen Rechte sind weiterhin nicht gewährleistet – bei weitem nicht. Millionen Kinder leiden unter Hunger und sterben, bevor sie die geringste Ahnung von ihren Rechten als Kinder haben können. Es gibt kein Recht auf Leben, wenn es kein sauberes Trinkwasser gibt. Die Erklärung selbst nützt niemandem, der sie nicht lesen kann.
Und nicht zu vergessen: "Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und Grundschulen unentgeltlich sein", wie Artikel 26 festhält. Woran dachten also die übergebildeten Nadelstreifträger in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds, als sie in den 1980er und 1990er Jahren routinemäßig die ärmsten Menschen der Welt dazu zwangen, Grundschulgebühren zu bezahlen?
Dass der Jahrestag der Erklärung mit den Olympischen Spielen in Beijing zusammenfällt, macht den Rückschritt umso bezeichnender. Die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees beruhte auch auf einer Verpflichtung der chinesischen Regierung, die Menschenrechtslage zu "verbessern". Da die Einzelheiten der betreffenden Abmachung vertraulich blieben, ist sie letztlich bedeutungslos.
Unterdessen hält China an seiner Politik fest, von der materiellen Unterstützung mörderischer Regime wie in Sudan oder Burma über die Besetzung Tibets bis zur Vorliebe für wahllose Hinrichtungen und der Unterdrückung interner Kritik (siehe auch Artikel auf Seite 30). Eine gewisse Abneigung, an den Spielen teilzunehmen – wenn schon kein Boykott – wäre vernünftigerweise zu erwarten gewesen, doch was bisher auf Regierungsebene geschah, war kümmerlich. Also mussten andere in die Bresche springen, darunter einige, die sich für die Menschen in Tibet, Burma oder Darfur einsetzen.(4)
Es lässt sich durchaus plausibel vertreten, wie es viele chinesische und internationale Menschenrechtsorganisationen getan haben, dass die Spiele eine Art "Öffnung" gegenüber der "internationalen Gemeinschaft" ermöglichen, von der die Menschen in China profitieren werden. Aber diese schwer zu fassende "internationale Gemeinschaft", fixiert auf den Krieg gegen den Terror, kümmert sich nicht mehr um Menschenrechte. China ist zu einem derart zentralen Bestandteil der wirtschaftlichen Globalisierung geworden, dass alle anderen Überlegungen fallen gelassen wurden wie heiße Kartoffeln. Die tiefgreifende Abhängigkeit der kapitalistischen Globalisierung von der Missachtung der Menschenrechte lässt nicht unbedingt vermuten, dass die – weitgehend von Konzernen gesponserten – Spiele ein großer Segen für die ChinesInnen sein werden.
Die Wettkämpfe, auf die es ankommt, werden jedenfalls nicht im August in Beijing stattfinden, pflichtgemäß angefeuert von Coca-Cola und Konsorten, sondern auf den Straßen, auf den Feldern und in den Heimstätten von Millionen von Menschen, die wissen, was es heißt, ein Mensch zu sein.
1) Andy Worthington, The Guantanamo Files,
Pluto Press, London 2007
2) Barbara Olshansky, Democracy Detained,
Seven Stories Press, New York 2007
3) Jeremy Scahill, Blackwater – the rise of the world's most powerful mercenary army,
Serpent's Tail, London 2007
4) Einen kurzen Überblick über die Boykottbewegung bietet Wikipedia unter http://en.wikipedia.org/wiki/2008_Summer_Olympics;
siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_2008
Copyright New Internationalist
Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin "New Internationalist" (Ausgabe 408, Jänner/Februar 2007) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Oxford für die gute Zusammenarbeit. Der "New Internationalist" kann unter der Adresse: Tower House, Lathkill Street, Market Harborough, Leicestershire LE16 9EF, England, U.K., bezogen werden. (Jahresabonnement: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 171/82 28 99). www.newint.org
Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner. Übersetzung: Robert Poth.
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