Mehrerlei Recht

Von Gerald Hainzl · · 2007/10

In afrikanischen Staaten können verschiedene Rechtssysteme parallel nebeneinander bestehen: die von den ehemaligen Kolonialmächten importierten und nationalstaatlich gedachten Rechtssysteme und Rechtsvorstellungen, die sich in Afrika in den jeweiligen Gesellschaften entwickelt haben.

In Afrika ist es nicht ungewöhnlich, dass Individuen, aber auch einzelne Völker und Gruppen mehreren Rechtssystemen unterworfen sind. Am Zustandekommen der für sie geltenden Normen können sie auf vielfältige Weise beteiligt oder davon ausgeschlossen sein. Besonders in Landrechtsfragen, aber ebenso Fragen des Familien- und Eherechtes können Normen kollidieren, besonders dann, wenn keine eindeutigen Regeln bestehen, welches Recht gelten soll.
Die willkürlichen Grenzziehungen durch die Kolonisierung haben in Afrika postkoloniale Staaten hinterlassen, in denen verschiedene Völker mit ähnlichen oder unterschiedlichen politischen Systemen zum Zusammenleben gezwungen wurden. Die Formen sozialer Organisation und die damit verbundenen rechtlichen Traditionen, die sich in den verschiedenen Regionen des Kontinents in unterschiedlicher Weise entwickelt hatten, wurden zur Kontrolle und Beherrschung missbraucht oder schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Die postkolonialen Staaten entschieden sich bei der Unabhängigkeit mehrheitlich dafür, Systeme zu übernehmen, denen der Ruf der Modernität anhaftete, und vernachlässigten in Afrika entstandene Modelle, die im besten Fall als traditionell galten. Die Motivation dafür lag möglicherweise in der Idee, die Einheit des Staates nicht durch Konflikte um Vormachtstellungen zu gefährden.

Während der letzten Jahre haben sich die Diskussionen über den Wert afrikanischer Systeme allerdings zu wandeln begonnen, wohl auch mit der Einsicht, dass das Einbeziehen von „Traditionellen Autoritäten“ in die Verwaltung des Staates zum Beispiel in Botswana zu einem stabilen und ökonomisch erfolgreichen Staat geführt hat. Dort ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass gewisse Vergehen und Auseinandersetzungen vor einem „Customary Court“ verhandelt werden. Das staatliche Rechtssystem wird dadurch entlastet, lokale Systeme damit einbezogen und sehr oft werden sozial ausgewogene Lösungen gefunden.
Im Fall von Landrechtsfragen können die Menschen, insbesondere Minderheiten, aber oft nur auf „ihr“ Recht direkten Einfluss ausüben. Die Möglichkeiten, sich an demokratischen Prozessen auf nationalstaatlicher Ebene zu beteiligen, um die eigenen Interessen einzubringen, sind in vielen Fällen sehr beschränkt. Entweder werden Minderheiten überhaupt negiert oder sie verfügen nicht über die notwendige Macht, um ihre Anliegen durchzusetzen. Auf internationale Vereinbarungen, die vom Staat übernommen werden oder übernommen werden müssen, haben viele Betroffene in der Regel überhaupt keinen Einfluss.
Die „Traditionellen Autoritäten“ unterliegen keinem starren System präkolonialer Regeln, die zur Anwendung kommen sollen, sondern können sich ebenso dynamisch entwickeln wie staatliche normative Ordnungen. Daraus können dem Staat aber auch Konsequenzen erwachsen, vor allem im Hinblick auf die oftmals unklare Legitimität dieser Autoritäten. Verfügen sie tatsächlich über die Zustimmung der Bevölkerung oder werden sie zur Verfolgung politischer und ökonomischer Ziele missbraucht? Auch Staaten können ein Interesse daran haben, Formen der traditionellen Rechtssprechung weiterzuentwickeln, wie das Beispiel Ruandas zeigt. Damit die vielen Menschen, die 1994 am Genozid beteiligt waren, vor einem Gericht verantwortlich gemacht werden können, wurde eine adaptierte „traditionelle“ Gerichtsbarkeit implementiert.

Auf viele Minderheiten wirken normative Ordnungen, die außerhalb ihrer Kontrolle oder der Möglichkeit zur Partizipation stehen, jedoch gravierende Auswirkungen auf ihr Leben haben. Minderheiten, deren „traditionelle“ Form der sozialen und politischen Organisation jener der Mehrheit nicht ähnelt, erscheint die Übernahme der Vorstellungen der Mehrheit als erstrebenswert, um auch tatsächlich an der politischen Gestaltung des Staates und damit an für sie relevanten Regelungen teilnehmen zu können. Ein Beispiel dafür sind die San in Botswana. Das sind im südlichen Afrika jene Völker, die noch als Jäger und Sammler leben oder früher gelebt haben. Viele politisch aktive San in Botswana glauben, dass es notwendig wäre, die Organisationsstruktur der in der Verfassung genannten „Constitutional Tribes“ zu übernehmen, um politisch nicht länger marginalisiert zu werden.
Das Entwicklungsparadigma der Regierung Botswanas sieht vor, dass sich die San ökonomisch und politisch an das dominierende System anpassen müssen. Besonders ihre Lebensform als JägerInen und SammlerInnen im Nationalpark Central Kalahari Game Reserve (CKGR) war und ist für die Regierung aus mehreren Gründen nicht mehr wünschenswert.
Die San sind in dieser Situation von mehreren Rechtssystemen betroffen, auf die sie mehr oder weniger Einfluss hatten. Sie unterliegen einem staatlichen Rechtssystem, das auf sie angewandt wird, an dessen Zustandekommen sie jedoch nicht beteiligt waren, während ihre rechtlichen Vorstellungen hinsichtlich ihres territorialen Anspruches keine Berücksichtigung finden. Aber auch der Staat ist in seiner Entscheidung zur Umsiedlung durchaus gebunden. Internationale Abkommen, im Falle des CKGR die Regelungen der World Conservation Union (IUCN), schaffen zusätzliche Normen. Transnationales Recht gestaltet damit ebenfalls das Leben von Menschen mit, die an dessen Zustandekommen keinen Anteil haben. Das CKGR wurde bereits 1961 zum Wildreservat erklärt, als Botswana noch britisches Protektorat war. Dementsprechende Kriterien zur Landnutzung wurden damals aufgestellt. Allerdings könnte der Staat Änderungen vornehmen. Dagegen sprechen jedoch ökonomische Gründe. Im Rahmen der Diversifizierung der Volkswirtschaft ist Tourismus von großer Bedeutung, weshalb die internationale Zertifizierung von Naturschutzgebieten als Qualitätsmerkmal von besonderer Bedeutung zu sein scheint. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen haben die San ihr Ziel erreicht. Das oberste Zivilgericht Botswanas hat ihnen im Dezember 2006 das Recht auf eine Rückkehr in den Wildpark zugesprochen. Damit wurde von einem nationalen Gericht etwas festgestellt, was nach dem eigenen Rechtsverständnis schon immer festgestanden hat.

Rechtliche Vorstellungen kollidieren aber nicht nur auf der Ebene der Rechte von Minderheiten, sondern auch in verschiedenen Bereichen, die für das tägliche Leben der Menschen von Bedeutung sind. Im südlichen Afrika ist Lobola, der Brautpreis (siehe Kasten) gelebte Praxis und Ehen nach „Customary Law“ sind nicht ungewöhnlich. Dies wirft jedoch nicht nur Fragen der Anerkennung der Ehen durch den Staat auf, der „traditionelles“ Recht in das staatliche Rechtssystem integrieren muss. In Südafrika beispielsweise wurden bis zum Ende der Apartheid viele Ehen unter dem „Customary Law“ abgeschlossen, die allerdings vom Staat nicht voll anerkannt worden waren. Erst im November 2000 trat der „Recognition of Customary Marriages Act“ in Kraft, der diese Ehen nicht nur im staatlichen Rechtssystem legalisierte, sondern auch die Gleichberechtigung der Frauen festlegte.

Der Autor ist Afrikaexperte an der Akademie für Landesverteidigung in Wien.

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