Woran denken viele in Österreich, wenn sie „Volkskultur“ hören? An Trachten, Volksmusik, Perchten, an Mundartdichtung, ZitherspielerInnen und anderes mehr. Repräsentationskultur, die touristisch vermarktet und verwertet, von geförderten Vereinen gepflegt und verwaltet wird; die von Archiven, Dokumentationsstellen und Institutionen wie den Volksliedwerken, Heimatmuseen oder den Universitäts-Instituten für Europäische Ethnologie oder Sprachwissenschaft erfasst und erforscht wird. Der Schutz von immateriellem Erbe sollte hierzulande eine „g’mahte Wiesn“ sein, könnte man auf gut österreichisch meinen. Für Maria Walcher von der österreichischen UNESCO-Kommission geht dieses Erbe aber weit über das Angenehme, Musische und Schöne hinaus.
Österreich wird voraussichtlich dieses Jahr die Konvention zum Schutz des Immateriellen Kulturerbes ratifizieren. Damit verpflichtet es sich, Inventarlisten des im Land vorhandenen Kulturerbes zu erstellen und diese regelmäßig zu aktualisieren. Seit Anfang 2006 leitet die Volksmusikforscherin und Kulturmanagerin die im Zuge der Vorarbeiten eingerichtete Nationalagentur für Immaterielles Kulturerbe. Ein Bereich, der sich dabei – eher unerwartet – mit einem akuten Bedarf an Aufmerksamkeit herauskristallisiert hat, ist die traditionelle Medizin.
Während Heilverfahren aus anderen Kulturen, wie traditionelle chinesische Medizin (TCM) oder Ayurveda, auch hierzulande zunehmend gesucht und legal praktiziert werden, liegen die eigenen Wurzeln eher brach. „Jemand, der mit traditionellen Methoden heilt, ist mit einem Fuß im kriminellen Bereich“, beschreibt Walcher die Situation. Denn anders als etwa in Deutschland gibt es in Österreich keine anerkannte HeilpraktikerInnen-Ausbildung, und aus der Schulmedizin wurde die traditionelle europäische Medizin weitgehend verdrängt.
Beispiel heimische Heilpflanzen: Zwar dürfen ÄrztInnen pflanzliche Heilmittel verschreiben. Doch sind naturheilkundliche Verfahren in Österreich kein Bestandteil der Ärzteausbildung mehr. ÄrztInnen können sehr wohl Spezialausbildungen in TCM machen. Wofür aber zum Beispiel Thymiantee gut ist, welche Wickel Fieber senken oder Schmerzen lindern, wird in der medizinischen Ausbildung nicht berücksichtigt. Ebenso gibt es einen wissenschaftlichen Beirat für TCM im Gesundheitsministerium, aber keinen für traditionelle europäische Medizin. Auch bei der Weitergabe zwischen den Generationen klaffen Lücken, stellt Walcher fest. Die Folge: Selbst bei kleinen Krankheiten, die mit überlieferten Mitteln einfach zuhause zu heilen wären, werden ÄrztInnen aufgesucht und chemische Präparate verwendet. „Wir haben keine Dokumentation unseres derzeitigen Standes an traditionellen Heilmethoden“, berichtet Walcher.
Dazu kommt eine neue EU-Richtlinie über die Zulassung von traditionellen Heilmitteln, die 2011 wirksam wird und wonach eine Reihe von Kräutermischungen und Kräutertees aus den Regalen heimischer Apotheken verschwinden könnten. Sämtliche Mischungen und Einzelheilkräuter müssen neu registriert werden, allerdings mit der Auflage, dass es eine Dokumentation und wissenschaftliche Studien über ihre Wirksamkeit gibt. Dies ist bei heimischen Heilpflanzen häufig nicht der Fall, weil sie eben auf der Grundlage von mündlich überliefertem Wissen angewendet werden. Der an den Kriterien von Schulmedizin und Pharmazeutik orientierte Nachweis der Wirksamkeit ist gerade für die meist kleinen Heilkräuter-Firmen unleistbar. „Das würde bedeuten, dass mit 2011 sehr viele der für uns wichtigen Heilmittel aus den Apotheken in den Nahrungsmittel-Ergänzungsbereich abwandern“, so Walcher. „Dort ist die Qualitätssicherung aber in keiner Weise die gleiche.“
Die UNESCO-Kommission hat nun drei Arbeitskreise zum Thema traditionelle Medizin eingerichtet, an denen sich SchulmedizinerInnen, praktische HeilerInnen, WissenschaftlerInnen und PharmakognostInnen beteiligen. Einer beschäftigt sich mit Ausbildung, Fortbildung und Qualitätssicherung, wo es auch darum geht, Naturheilkunde wieder in der medizinischen Ausbildung zu verankern. Der zweite beschäftigt sich mit pflanzlichen Heilmitteln, wo man in Bezug auf die neue EU-Richtlinie nach Wegen sucht, diese als Kulturerbe sicher zu stellen. Der dritte widmet sich der Dokumentation und arbeitet an der Einrichtung einer Forschungs- und Dokumentationsstelle am Institut für Medizingeschichte. „Alle Beteiligten“, so Walcher, „sind sehr dankbar, dass dies nun unter dem Titel ‚Kulturerbe’ läuft, da sich dadurch ein Raum für Diskussion öffnet, wo vorher kein Dialog möglich war.“
Der Umgang mit Naturgefahren und -katastrophen ist ein weiterer Bereich, zu dem die österreichische UNESCO derzeit arbeitet. Auch hier hat die von Politik und Wirtschaft mitproduzierte Technikgläubigkeit der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass wesentlichem traditionellen Wissen kein Wert mehr beigemessen wird. „Das fängt bei den Flurnamen an“, meint Walcher, „wo man oft schon aufgrund des Namens feststellen kann, wie ein Boden beschaffen ist und wo man etwas besser nicht tun sollte.“ Eine Befragung der einheimischen Bevölkerung in den gelben und roten Gefahrenzonen in Tirol soll nun im Rahmen einer volkskundlichen Studie erheben, was an Basiswissen (noch) vorhanden ist.
Über die Idee des „Schützens“ hinaus sieht die Leiterin der Nationalagentur die Bedeutung der Konvention für Österreich vor allem darin, Bewusstwerdungsprozesse in Gang zu setzen. Was können wir in unserer jetzigen Zeit von dem, was wir an lebendigem Wissen haben, brauchen? Wie können wir es brauchen und wie können wir es einsetzen? „Immaterielles Kulturerbe ist eigentlich die individuelle Verantwortung für das, was mich und meine unmittelbare Umgebung betrifft“, interpretiert Walcher. „So schwierig dieses Wort an sich ist, es hat eine Fülle an Inhalten und ein hohes Potenzial.“