Den Arm hält sie angewinkelt, als wäre er immer noch steif und könne nicht gestreckt werden. Sie muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass er endlich mitmachen kann. Beim Kuchen backen, beim Brei verkaufen. Und wenn sie Sehnsucht nach ihrer Mutter hat. „Wenn ich nach Hause komme, kann ich sie endlich richtig umarmen – zum ersten Mal in meinem Leben“, sagt Inés Zankpotin und lächelt so selig, als sei es schon so weit.
Als ihre Großmutter hörte, dass es in Cotonou, hunderte Kilometer vom Dorf entfernt, auf dem Klinikschiff „Africa Mercy“, eine Lösung für das Problem ihrer zwölfjährigen Enkelin gebe, sammelte sie für die Reise. Die meisten FreundInnen gaben ein paar Scheine, obwohl sie selbst kaum etwas besitzen. „Inés braucht es jetzt, also soll sie es haben“, dachten sie. „Wenn wir später selbst Geld benötigen, wird man uns auch helfen.“ Großmutter und Enkelin machten sich auf den Weg nach Cotonou, der Hauptstadt Benins. Sie hatten noch nie das Dorf verlassen. Sie hatten auch noch nie das Meer gesehen.
Cotonou bedeutet auf Fon „Am Rande des Todes“. Etwa eine Million EinwohnerInnen hat die Stadt im westafrikanischen Benin, in dem die Lebenserwartung bei durchschnittlich 59 Jahren liegt. Es ist eine staubige Stadt mit schlecht gepflasterten Straßen, voller Menschen und Mopeds und einem lauten, bunten Markt. Abgeschnittene Tierköpfe für Voodoorituale werden hier verkauft, Hütten aus Lehm und Schrott lehnen sich aneinander, daneben stehen halbfertige Betonbauten. Im Hafen riecht es nach Urin und Abfall, Fischerboote schaukeln auf dem schmutzig-braunen Wasser. Hier liegt für ein paar Monate die „Africa Mercy“ vor Anker, ein umgebautes Kreuzfahrtschiff, auf dem sich die Ärmsten der Armen kostenlos operieren lassen können. 380 Menschen aus aller Welt und aus allen Berufsgruppen arbeiten hier – unentgeltlich, nur unterstützt von Spenden. Sie haben sich bewusst für dieses einfache Leben auf engem Raum entschieden.
Inés Zankpotin sitzt auf ihrer Liege in der Krankenstation der „Africa Mercy“ und erzählt. Sie ist ein kleines Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren, weißem T-Shirt und Flipflops zum traditionellen bunten Wickelrock. Drei Monate war sie alt, als die Öllampe in ihrer Hütte umfiel und ihrem linken Arm schwere Brandwunden zufügte. Die Muskeln verkürzten sich, sie konnte ihn nicht mehr strecken. „Er war tot“, sagt sie. Erst seit ihrer Operation auf der „Africa Mercy“ kann sie ihn wieder normal bewegen. Einfach war dieser Schritt für Inés allerdings nicht. „Ich hatte große Angst.“
Bei aller Hoffnung auf Heilung: Die „Africa Mercy“ ist für viele Einheimische ein ungewöhnlicher, furchterregender Ort. Viele von ihnen, die wie Inés extra aus dem Norden des Landes zum Schiff kommen, haben noch nie das Meer gesehen. Sie haben Angst vor Wassergeistern. Nur wenige von ihnen haben Zugang zu Elektrizität. Sie begeben sich in die Hände von Menschen, deren Welt ihnen nicht vertraut ist, deren Sprache sie nicht verstehen. Die „Africa Mercy“ gleicht einer westlichen Enklave mitten in Afrika. Die Regeln sind westlich, genauso wie die Sprache und das Personal. Das schafft Grenzen.
„Die Menschen kommen in ihrem eigenen Land in eine Welt, die Weiße geschaffen haben, wo die Weißen dominieren. Das Schiff ist also auch eine Barriere“, sagt PR-Chef Udo Kronester, ein großer, kräftiger Mann mit gebräuntem Gesicht, der gerne die bunten Hemden Afrikas trägt. Im Ärzteteam etwa, wo es besonders nötig wäre, den PatientInnen die Angst vor den MedizinerInnen zu nehmen und eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, gibt es niemanden mit schwarzer Hautfarbe.
„Das ist schade, denn es würde die Distanz zwischen Ärzten und Patienten verringern“, sagt Kronester. „Man muss aufpassen, dass man sich nicht der Retterrolle hingibt. Man darf nicht die Einstellung haben: Ohne uns würde das alles zusammenbrechen. Wir wollen keine weißen Retter sein.“ Der Deutsche arbeitet seit 15 Jahren für „Mercy Ships“, lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf der „Africa Mercy“ in einer 60 Quadratmeter großen Kabine auf Deck sechs. Sie haben es damals vor 15 Jahren ähnlich gemacht wie Inés und ihre Familie. „Wir gaben eine Party und erzählten unseren Freunden, dass wir vorhaben, zu Mercy Ships zu gehen, um dort mitzuarbeiten – ohne Bezahlung“, erzählt Kronester. „Und dann haben wir einfach gewartet, was passiert. Direkt um Hilfe gebeten haben wir niemanden.“ Es fanden sich trotzdem so viel spendenwillige UnterstützerInnen, dass das Paar kurze Zeit später nach Texas flog, um sich als Langzeitfreiwillige für eines der Mercy-Schiffe ausbilden zu lassen. Geblieben sind sie bis heute. 300 Dollar für Verpflegung und Unterkunft monatlich kostet sie das Leben an Bord pro Person. Finanziert wird das, wie bei allen Crewmitgliedern, durch die ständigen Spenden von Familie und FreundInnen in Deutschland. Seit 15 Jahren.
Die Medizinschiffe
Die „Africa Mercy“ ist ein Schiff der Hilfsorganisation „Mercy Ships“, die 1978 in der Schweiz gegründet wurde. Das ehemalige Kreuzfahrtschiff, das unter der Flagge Maltas fährt, wurde zum Klinikschiff mit sechs Operationssälen umgebaut und stach im Mai 2007 erstmals in See. Nach Stationen in Liberia und Benin ist es seit Februar in Togo. Einige der Crewmitglieder leben mit ihren Familien seit Jahren an Bord, andere arbeiten als Kurzzeitfreiwillige ein paar Monate oder Wochen mit. Sie alle bekommen kein Geld für ihre Tätigkeit, sondern leben von Spenden aus dem Familien- und Freundeskreis.
Fünf Decks tiefer steht Chefarzt Gary Parker im Operationssaal und setzt das Skalpell an. Parker ist 53 Jahre alt und seit 23 Jahren Chirurg bei „Mercy Ships“. Ein Idealist, der sich von Reichtum und Ruhm vor langer Zeit verabschiedet hat. Er setzt in seinem Leben andere Schwerpunkte. „Es berührt mich immer wieder, wenn ich sehe, wie die Menschen hier nach einer Tumoroperation eine Chance auf ein neues Leben bekommen. Wenn die Gesellschaft sie wieder akzeptiert“, sagt der Mediziner nach der OP bei einem Milchkaffee in der Cafeteria. Er hat den Mundschutz über den grauen Bart heruntergezogen und erzählt. Von den 4.000 Kranken, die zur ersten Voruntersuchung kamen. Lediglich 600 bekamen einen OP-Termin und wurden in den vergangenen Monaten behandelt, die anderen wieder fortgeschickt. Denn auf dem Schiff können die Ärzte keine chronisch Kranken kurieren, sie nehmen nur chirurgische Eingriffe vor. Neben Tumoren handelt es sich dabei meistens um Vaginalfisteln, die durch schwere Geburten entstehen und zu Inkontinenz führen (siehe SWM 06/09), Verbrennungen, Augenerkrankungen sowie Lippen- und Gaumenspalten. In Deutschland sind das Routine-Operationen, in Benin und vielen anderen westafrikanischen Staaten sind es dagegen Leiden, die selten zu kurieren sind, weil die Gesundheitsversorgung ungenügend ist.
Das weiß auch Gabriele Gbégnonvi, entwicklungspolitische Mitarbeiterin bei der Deutschen Botschaft in Cotonou. Grundsätzlich stehe sie hinter der Arbeit der „Africa Mercy“-Crew, obwohl sie anfangs skeptisch gewesen sei. „Eine solche Einflussnahme von außen ist immer ambivalent, weil eine nachhaltige Verbesserung am besten aus dem Land selbst kommt“, sagt die gebürtige Bielefelderin, die vor 20 Jahren ihrem Mann nach Cotonou folgte und seitdem hier lebt. „Ich dachte erst, da das Schiff die Menschen umsonst behandelt, ist es für die einheimischen Ärzte eine große Konkurrenz und lähmt die Eigeninitiative der Patienten, sich das Geld für den Arztbesuch vor Ort zu erarbeiten.“ Dann hat Gbégnonvi das Schiff besucht und ihren Eindruck revidiert. „Hier werden nur Menschen behandelt, die entweder so arm sind, dass sie sich auch die paar Francs für den Arztbesuch nicht leisten können, oder aber einfach einen Spezialisten benötigen, den es in Benin nicht gibt“, sagt sie.
Dass sie trotzdem eine Lücke hinterlassen, wenn sie nach neun Monaten weiterfahren, um dem nächsten afrikanischen Land kostenlos Hilfe anzubieten, ist besonders den LangzeitmitarbeiterInnen der „Africa Mercy“ bewusst. Darum versuche die Organisation, „Brücken zu bauen, die länger halten, eben etwas im Land zu hinterlassen“, erklärt Esther Schülein, Intensiv- und Anästhesiekrankenschwester aus Stuttgart, die für zwei Jahre auf dem Schiff mitarbeitet. Trotzdem sei ihr klar, sagt die 30-Jährige selbstkritisch, dass sie nur Teil eines Puzzles seien. „Solange wir reinkommen und das machen, was die Organisationen im Land nicht leisten können, ist es in Ordnung. Aber wir sind immer nur eine Ergänzung für sie.“ Die Krankenschwester nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrem Thermobecher, hält einen Moment inne und sagt dann: „Ich weiß nicht, ob ich das umgekehrt überhaupt könnte: Ganz allein als weißer Patient in einem OP-Saal liegen, der mir als solcher völlig fremd ist, um mich herum nur schwarze Ärzte, deren Sprache ich nicht kann. Ich glaube, ich würde aufstehen und gehen.“ Möglich, dass die kleine Inés ähnlich gedacht hat, als sie im fensterlosen OP-Saal im Bauch der „Africa Mercy“ auf ihre Narkose und den Chirurgen wartete. Getan hat sie etwas anderes. Sie ist liegen geblieben.