Südkorea hat hinsichtlich der Freitodrate Japan längst überholt. Im letzten Jahrzehnt nahmen sich über 130.000 Menschen das Leben. Aus Seoul berichtet Sven Hansen.
Der Rest meines Lebens wäre nur eine Belastung für andere. Ich kann nichts machen, weil ich nicht gesund bin. Seid nicht zu traurig. Sind Leben und Tod nicht beide Teil der Natur?“ Diese Sätze schrieb Südkoreas Ex-Präsident Roh Moo-hyun, bevor sich der 63-jährige Politiker am 23. Mai 2009 bei Busan in den Tod stürzte – 15 Monate nach dem Ende seiner Amtszeit. Dem früheren Menschenrechtsanwalt Roh, dessen Präsidentschaft viele AnhängerInnen enttäuscht hatte, war zuvor Korruption vorgeworfen geworden.
Roh ist der bekannteste Koreaner, der sich in den letzten Jahren selbst tötete. Doch ist sein Fall nur einer unter vielen Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Showbusiness, die sich im Land der Morgenstille das Leben nahmen. Vor ihm hatten sich bereits ein enger Mitarbeiter des Premierministers sowie der Ex-Bürgermeister von Busan erhängt, Südkoreas zweitgrößter Stadt. Auch der Ex-Gouverneur der Provinz Jeolla tötete sich. Ein Erbe des Hyundai-Konzerns sprang aus dem Fenster seines Büros. Ein halbes Jahr vor Präsident Roh hatte sich mit Choi Jin-Sil Südkoreas beliebteste Schauspielerin erhängt. Ihr Bruder teilte im März 2010 ihr Schicksal.
Im vergangenen August tötete sich eine Enkelin des Gründers des Samsung-Konzerns, zuvor hatte sich im Jänner bereits ein Vizepräsident des Elektronikriesen umgebracht. Zuletzt erhängte sich am 7. Oktober die prominente „Glückspredigerin“ Choi Yoon-hee zusammen mit ihrem Mann bei Seoul. Die 63-Jährige, die in TV-Shows wie „Macht die Welt freudvoll“ oder „Freude machen“ aufgetreten war und rund 20 Bücher über Hoffnung und Glück geschrieben hatte, litt laut dem bei ihr gefundenen Abschiedsbrief unter Depressionen und Gesundheitsproblemen.
Zwar fanden einige prominente Suizidopfer aus dem Showbusiness zahlreiche Nachahmer („Werther-Effekt“). So gab es allein im Monat nach Chois Jin-Sils Tod rund 700 mehr Suizidfälle als sonst. Doch entwickelten sich in den letzten Jahren in Südkorea Selbsttötungen auch ohne die prominenten Vorbilder zu einem besorgniserregenden Massenphänomen. Von 2000 bis 2009 töteten sich 130.802 Koreaner selbst, davon rund 30 Prozent Frauen.
Inzwischen hat das ostasiatische Land die höchste Suizidrate aller OECD-Staaten und damit längst auch Japan überholt. In Südkorea kamen 2009 laut dem Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt auf 100.000 EinwohnerInnen 31 Suizide, insgesamt 14.579 Fälle. Das waren 20 Prozent mehr als im Vorjahr. 1999 hatte die Suizidrate noch bei 15 von 100.000 gelegen, 1982 gar nur bei 6,8. Selbsttötungen sind sogar die häufigste Todesursache bei Personen zwischen 20 und 30 Jahren (40,7%) und zwischen 30 und 40 Jahren (28,7%). Für Suizide junger Menschen wird vor allem das auf stundenlanges Pauken ausgerichtete Bildungssystem verantwortlich gemacht.
Südkorea ist ein Land im Stress. „Die Geschwindigkeit des Wandels ist bei uns sehr hoch“, sagt der Psychiater Kim Byungsu. Er arbeitet in Seouls größter Klinik und gehört zum Vorstand der Gesellschaft zur Suizid-Prävention. „Südkorea hat eine sehr auf Wettbewerb ausgerichtete Gesellschaft. Wer bei uns nicht die Nummer eins oder zwei ist, wird für nicht gut befunden. Wir bräuchten mehr Toleranz gegenüber Schwächen und Niederlagen. Die sind bei uns nicht vorgesehen.“
Laut Kim hatte die Asienkrise 1997/98 Südkorea zutiefst verunsichert. „Seitdem sind wir noch stärker im Stress“, sagt er. „Wer damit nicht klar kommt und unter Depressionen leidet, wird schnell stigmatisiert.“
Kim macht die sensationalistische Berichterstattung der Medien für die vielen Nachahmungs-Suizide mitverantwortlich. Die Gesellschaft zur Suizid-Prävention, ein Zusammenschluss von PsychiaterInnen und SozialarbeiterInnen, erarbeitete Richtlinien. „Die Medien sollten nicht über die Suizid-Methoden berichten, sich nur an Fakten orientieren, keine Emotionen schüren und Fälle nicht immer wieder aufgreifen“, sagt Kim. Das Internet – Südkorea ist das am stärksten vernetzte Land der Welt – sieht er als Gefahr und Chance gleichzeitig. Zwar gebe es Verabredungen zu Gruppenselbstmorden im Netz, doch lasse sich dieses auch zur Aufklärung nutzen. Es bräuchte einen kulturellen Wandel und einen anderen Umgang mit psychischen Erkrankungen, meint Kim Byungsu.
Sven Hansen ist Asienredakteur der Berliner Tageszeitung „taz“ und besuchte kürzlich Südkorea.
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