Manna in der Wüste

Von Robert Poth · · 2004/02

Geldtransfers von MigrantInnen in ihre Heimat wird heute ein enormes Potenzial als „Entwicklungsmotor“ zugeschrieben. Noch sind sie aber mehr als Sozialnetz zu verstehen – und oft als Symptom gescheiterter Entwicklung.

Seit Ende der 1960er Jahre hat sich die Zahl der MigrantInnen weltweit auf 175 Millionen verdoppelt, schätzt die International Organisation for Migration (IOM). Parallel dazu hat auch die traditionelle Verwandtschaftshilfe eine erstaunliche Dimension erreicht: Rund 100 Mrd. US-Dollar dürften 2002 von MigrantInnen auf offiziellen Wegen in ihre Herkunftsländer überwiesen worden sein; rechnet man informelle Transfers hinzu, je nach Quelle um zehn, vierzig oder sogar hundert Milliarden mehr. Damit stellen sie nicht nur die offizielle Hilfe der OECD-Länder (ca. 55 Mrd. Dollar), sondern in einigen Ländern und Regionen auch die Investitionen ausländischer Unternehmen spielend in den Schatten.
Ihre große wirtschaftliche Bedeutung steht außer Frage. Sie halten weltweit Millionen Familien in ärmeren Ländern über Wasser, sind das Rückgrat mancher kleiner Volkswirtschaften mit besonders hohen Auswanderungsraten und gehören zu den wichtigsten Devisenquellen selbst großer Länder wie etwa von Pakistan und Vietnam. Und dabei ist das Potenzial noch nicht ausgeschöpft: Allein die 20 Millionen indischen MigrantInnen verdienen jährlich schätzungsweise 400 Mrd. US-Dollar, die 23 Millionen „Mexican Americans“ in den USA sogar 450 Mrd. Dollar.

Trotz der wichtigen Rolle von Migration und Geldtransfers ist der Segen des Zwillingspaars in der entwicklungspolitischen Diskussion jedoch weiter umstritten. Offen ist etwa, wie negativ sich der „Brain drain“, die Auswanderung gerade der am besten Ausgebildeten, insbesondere auf kleine Länder auswirkt. Und die Debatte geht weiter. Ein Arbeitspapier des Internationalen Währungsfonds bescheinigte den Überweisungen kürzlich gar einen negativen Zusammenhang mit wirtschaftlichem Wachstum. Die Rekordhöhe der Geldtransfers nach Lateinamerika wiederum hat die Interamerikanische Entwicklungsbank IDB im Vorjahr zum Anlass genommen, sie als „Entwicklungsmotor“ zu propagieren – und implizit auch als neues „Entwicklungsmodell“: Wandere aus und sende Geld nach Hause.
Ein Segen sind sie zweifellos für die EmpfängerInnen, die sie offenbar gut gebrauchen können. Weltweit wird der größte Teil der Transfers für den Konsum verwendet, ein Indiz, dass sie als regelmäßiges „Grundeinkommen“ verstanden werden. Praktisch wirken sie oft als Sozialnetz, allerdings privat finanziert – sicher einer der Gründe, warum Regierungen dieses Phänomen so begrüßen. Investiert wird davon jedoch wenig, zumal in Lateinamerika: 2002 etwa, ermittelte der Multilaterale Investmentfonds (MIF) der IDB, wurden in Ecuador acht Prozent, in Zentralamerika sechs und in Mexiko nur ein Prozent der erhaltenen Mittel direkt investiert.

Investieren wäre auch nicht unbedingt nötig, denn wie der MIF unterstreicht, gibt es einen erheblichen Multiplikatoreffekt: Jeder überwiesene Dollar oder Euro erzeuge am Ende eine Nachfrage in dreifacher Höhe, und damit automatisch auch Investitionen, um diese Nachfrage zu befriedigen. Allerdings begünstigt dieser Multiplikatoreffekt nicht unbedingt die Zielregion, weshalb der MIF und Regierungen wie die Mexikos versuchen, die Transfers direkt in lokale Investitionen zu lenken. Beispiele für ein „Entwischen“ der Gelder gibt es genügend. Etwa in der indonesischen Provinz Ostflores, wo an die 80 Prozent der überwiesenen Gelder letztlich anderswo ausgegeben werden. Ebenso im südindischen Teilstaat Kerala, wo die jährlichen Überweisungen in den 1980er Jahren dreizehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichten. Zwar stieg der Lebensstandard, doch die nötigen Güter und Dienstleistungen kamen großteils von außerhalb Keralas – die lokale Wirtschaft profitierte kaum.
Dieses Phänomen könnte zum Teil erklären, warum auch im zentralamerikanischen El Salvador eine durchaus kräftige Geldinjektion wirkungslos zu verpuffen scheint – zumindest in punkto Wachstum. Dort erreichten die Überweisungen 2002 rund 2,2 Mrd. US-Dollar oder 15 Prozent des BIP (in Österreich wären das weit über 30 Mrd. Euro), doch ein Entwicklungsschub ist nicht auszumachen. Die salvadorianische Wirtschaft wächst seit 1999 im Schnitt nur um zwei Prozent pro Jahr, gerade so rasch wie die Bevölkerung, und die Bruttoinvestitionen, ein Gradmesser für das zukünftige Wachstum, stagnieren seit Mitte der 1990er Jahre bei bloß 17 Prozent des BIP. Zum Vergleich: In den rasch wachsenden Wirtschaften Ostasiens liegen diese Quoten bei 30 Prozent.

Offenbar repräsentieren die transferierten Dollars in El Salvador, so sie nicht postwendend als Importnachfrage wieder verschwinden, keine zusätzliche Konsumnachfrage, sondern decken nur eine durch sinkende Einkommen entstandene Nachfragelücke. Deutlich zu erkennen ist diese Funktion am Beispiel Nepals, das seit einigen Jahren von Bürgerkrieg und einem Ausfall der Tourismuseinnahmen geplagt wird. Nicht nur die Auswanderung erreichte bisher ungekannte Dimensionen, sondern auch die Höhe der Überweisungen: 2002 schickten emigrierte Nepalis schätzungsweise 850 Mio. Dollar oder 15% des BIP in die Heimat. Damit retteten sie ihr Land wahrscheinlich vor dem Kollaps. Aber ist das „Entwicklung“?
Wohl nicht. Die Geldtransfers der MigrantInnen sind zu einem erheblichen Teil bloß etwas, wovor uns der liebe Gott laut Friedrich Torbergs Tante Jolesch bewahren sollte: nämlich „noch a Glück“. Sie nehmen besonders dort zu, wo „Entwicklung“ zum Stillstand kommt – wegen politischer und wirtschaftlicher Krisen und der folgenden Emigration, die sich als Lebensstil perpetuiert. Die Liste dieser Krisenländer ist lang: Zentralamerika, Ecuador, Sri Lanka, von afrikanischen Ländern ganz zu schweigen. Und sie lässt sich auch um Länder erweitern, die an hartnäckigen Entwicklungsblockaden leiden – ob diese nun auf dem „eigenen Mist“ gewachsen sind oder auf dem einer fehlgeleiteten Globalisierung. Der Zusammenhang ist auch überregional zu erkennen (siehe Tabelle): Wo in den letzten Jahrzehnten kein Wachstum zustande kam, nahmen die Überweisungen am raschesten zu – in Lateinamerika und in Afrika südlich der Sahara.

Wird Migration auch als Folge eines fehlenden oder blockierten Entwicklungspotenzials verstanden, kann es nicht überraschen, dass das Geld der MigrantInnen oft kein nachhaltiges, beschleunigtes Wachstum bewirkt: Es fehlt der fruchtbare Boden. Geld kann zwar den Konsum ankurbeln, aber kaum etwas an investitionsfeindlichen Strukturen verändern. Wo es aber zahlreiche Geschäftschancen gibt, Menschen, die sie nutzen wollen und Institutionen, die bereit und fähig sind, gegen materielle oder immaterielle Sicherheiten Kredite zu angemessenen Konditionen zu vergeben, ist „Geld“ das geringste Problem. Denn Investitionen finanzieren sich in der Regel selbst. Am Anfang braucht es oft kaum mehr als eine Handvoll Dollar – das haben erfolgreiche Initiativen wie etwa die Grameen-Bank in Bangladesch zur Genüge bewiesen.

Nichts davon spricht dagegen, die hohen Kosten der Geldtransfers zu verringern (siehe Kasten) und einen größeren Teil der Mittel in Investitionen zu lenken, worauf etwa MIF und IDB hinarbeiten – obwohl Letzteres schwierig sein dürfte. Schließlich braucht ein Großteil der EmpfängerInnen das Geld für den eigenen Konsum. Keinesfalls sollte aber eine zugrundeliegende Realität verschleiert werden: Nämlich dass sich heute ganze Länder als „Entwicklungswüsten“ darstellen, deren attraktivste Perspektive darin besteht, Arbeitskräfte in reichere Länder zu exportieren: für die Jobs, die sonst niemand will, und für die billige Aufstockung des „Humankapitals“. Ändert sich daran nichts, werden auch noch so viele Geldtransfers dort kein Entwicklungsmotor sein – aber doch so überlebenswichtig wie Manna in der Wüste.


Teurer Spaß

Internationale Geldüberweisungen können ziemlich kostspielig sein – bis zu 20 Prozent des Betrags. MigrantInnen aus Lateinamerika etwa zahlten 2002 im Schnitt mehr als zwölf Prozent an Gebühren. Damit blieben vier Mrd. US-Dollar vor allem bei auf Geldtransfers spezialisierten Unternehmen hängen. Banken sind billiger, werden aber von LateinamerikanerInnen wegen des fehlenden Zugangs und Vertrauens weniger beansprucht. Bereits 2006 könnten aber elf Prozent der weltweiten Überweisungen über elektronische Bankomatennetze (Anteil 2002: 0,3 Prozent) laufen, glaubt das US-Beratungsunternehmen Celent. Derzeit sind aber informelle Kanäle wie das aus Indien stammende Hawala-System kaum zu schlagen, bei dem Geldtransfers meist per Telefon von einem internationalen Netz von HändlerInnen (Hawaladar) organisiert werden: Sie sind mit Abstand billiger als Banküberweisungen, noch dazu verlässlicher und rascher (ein bis zwei Tage), und ein Bankkonto ist unnötig – ein wichtiger Vorteil für „Illegale“.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen