Vor vierzig Jahren leitete eine Lateinamerikanische Bischofskonferenz die so genannte Befreiungstheologie ein. Heute ist es ruhig geworden um diese revolutionäre Leseart des Evangeliums. Doch in der katholischen Kirche Lateinamerikas gibt es immer noch viele sozial engagierte Priester und Laien, meint Gerhard Dilger.
Vor dem Brasilienbesuch des Papstes im vergangenen Jahr verkündete Odilo Scherer, der frischgebackene Erzbischof von São Paulo, dass die Zeit der Befreiungstheologie vorbei sei. In gewisser Weise hat Scherer, der mittlerweile zum Kardinal ernannt wurde, Recht. „Die Befreiungstheologie raubt heute niemandem mehr den Schlaf“, findet etwa der Deutsch-Brasilianer Paulo Suess, selbst ein prominenter und produktiver Vertreter der linken Theologen aus Lateinamerika. In der Tat: Die Zeit der Grabenkämpfe zwischen dem Vatikan und den Querdenkern aus dem Süden ist endgültig passé.
In den 1980ern schickte Johannes Paul II. seine rechte Hand Joseph Ratzinger, der später sein Nachfolger werden sollte, gegen den brasilianischen Franziskaner Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez aus Peru los. Boff wurde mit einem Bußschweigen belegt, 1992 legte er sein Priesteramt nieder und erlangte damit die völlige Freiheit des Wortes zurück. Gutiérrez hingegen, einer der Gründungsväter der Befreiungstheologie, erklärte sich dazu bereit, seine Thesen mit den Vorgaben aus Rom kompatibel zu machen, ohne dabei in der Sache einzuknicken: „Die früheren Differenzen sind Geschichte“, sagt der heute 80-jährige Peruaner, „so funktioniert eben Theologie.“ Verschmitzt verweist er auf Äußerungen des Papstes, in denen er sich für die Armen stark macht.
Eine ähnliche Strategie verfolgt Erwin Kräutler, der aus Vorarlberg stammende Bischof der Amazonas-Diözese Xingu. Auf der lateinamerikanischen Bischofskonferenz im brasilianischen Aparecida habe der Papst 2007 die „Option für die Armen“ bekräftigt, berichtete Kräutler, „das kommt beinahe der Heiligsprechung der Befreiungstheologie gleich“.
Vierzig Jahre nach der berühmten Bischofskonferenz in der kolumbianischen Metropole Medellín, dem „Beginn einer lateinamerikanischen Kirche im Gegensatz zur kolonialen Missionskirche“ (Suess), ist der kirchliche Mainstream nach rechts gerückt. Ein Zeichen der Zeit, aber auch eine Folge der römischen Personalpolitik. Boff: „Heute werden neue Pfarrer ganz in der Mentalität des Vatikans ausgebildet – nach innen gewendet, ohne Interesse an sozialen Fragen.“ Doch immer noch gibt es viele engagierte Priester und vor allem Laien, die sich für die Ausgegrenzten einsetzen: Landlose, Indígenas, Gefangene, Obdachlose. „Die Basisgemeinden haben einen Reifungsprozess hinter sich“, sagt der brasilianische Theologe Luiz Carlos Susin aus Porto Alegre, „wie Salz haben sie sich in den Wassern der Kirche aufgelöst.“ Anders als in der stürmischen Frühzeit der Befreiungstheologie gehen Spiritualität und Engagement heute häufig Hand in Hand.
In der „Inkulturationstheologie“ haben Suess und andere indigene oder afroamerikanische Traditionen aufgegriffen; Boff entwickelte eine „Ökotheologie“. Für den Kapuziner Susin ist die feministische Theologie die stärkste Stimme der neueren Strömungen: „In den Basisgemeinden waren die Frauen schon immer die treibende Kraft.“ Die Befreiungstheologie des 21. Jahrhunderts ist zudem ökumenisch ausgerichtet: In vielen protestantischen Mitgliedskirchen des Lateinamerikanischen Kirchenrats wird ebenfalls ein praxisnahes, sozial engagiertes Christentum praktiziert.
In Brasilien bildet die katholische Basis der Landpastoral CPT oder des Indianermissionsrates CIMI eine enorm wichtige Stütze des Widerstandes gegen umwelt- und menschenfeindliche Megaprojekte wie die Flussumleitung des São Francisco oder den Großstaudamm Belo Monte. Im Mai war Bischof Kräutler der Gastgeber des nach 1989 zweiten großen Indígena-Treffens für einen „lebendigen Xingu-Fluss“. Sein selbstverständlicher Einsatz für die Fischer, Indianer und Kleinbauern hat dem CIMI-Vorsitzenden Anfeindungen bis hin zu wiederholten Todesdrohungen eingebracht.
Mit dem Ecuadorianer Rafael Correa und dem Ex-Bischof Fernando Lugo in Paraguay wurden nun sogar zwei Linkskatholiken zu Präsidenten gewählt – beide wurden in jungen Jahren vom ecuadorianischen „Indianerbischof“ Leonidas Proaño geprägt. Ähnliches gilt für manchen einflussreichen Politiker in Brasilien. „Partizipation“ hat Lugo als wichtigstes Element genannt, das er aus den Basisgemeinden in seine Regierungspraxis mitnehmen wollte. Und Paulo Suess bekräftigt: „Heute reicht die Option für die Armen nicht mehr, wir brauchen eine Option mit den Armen.“
Damit befinden sich die beiden zwar nicht im gesamtgesellschaftlichen, doch immerhin im globalisierungskritischen Mainstream. Auch in der Debatte um Caudillismo und Partizipation, die in der lateinnamerikanischen Linken nur in Ansätzen geführt wird, sind solche Positionen wichtig, ebenso wie die Forderung nach einem zukunftsfähigen Wirtschaftsmodell. Mit seinem Einsatz für die „Mitwelt“ kann Erwin Kräutler auch im Vatikan mit Unterstützung rechnen.
Die Befreiungstheologie ist also quicklebendig. Doch ihre vielleicht größte Herausforderung steht noch bevor: Der Generationenwechsel von den zornigen oder gelassenen, aber fast immer ziemlich alten und weißen Männern wie etwa Ernesto Cardenal hin zu jenen, die die ganze Vielfalt Lateinamerikas verkörpern – den Indígenas in Ecuador oder Bolivien, den starken Frauen in der Karibik oder Mexiko, den Jugendlichen in Santiago oder San Salvador. Hier muss sie ihre Lebendigkeit erst noch beweisen.
Gerhard Dilger lebt und arbeitet seit 1999 als Korrespondent deutschsprachiger Medien in Brasilien.