Leben vom Müll

Von Astrid Erhartt-Perez Castro · · 2006/12

Der Müll ist in Mexiko-Stadt nicht nur ein ökologisches Problem. Er stellt auch eine bedeutende soziale Ressource dar, die Grundlage für das Überleben Tausender Müllsammlerfamilien bildet. Diese Pepenadores bilden eine marginalisierte Gemeinschaft mit besonderen Regeln und Lebensweisen, die dem Müll immer weiter an den Rand der Stadt folgt.

Das Bild der heiligen Jungfrau von Guadalupe, Schutzpatronin von Mexiko-Stadt und Sinnbild für Sauberkeit, ist überall in der Metropole zu finden. Die ihr zu Ehren errichteten kleinen Altäre sollen die BewohnerInnen an Reinlichkeit mahnen und so die Anhäufung von Müll auf Straßen und Plätzen verhindern. Tatsache ist jedoch, dass die Stadt täglich 22.000 Tonnen Abfall produziert – eine Menge, die nicht nur die Jungfrau von Guadalupe, sondern auch das städtische Abfallsystem überfordert.
Um 7 Uhr morgens herrscht auf der Müllhalde Neza in der Gemeinde Nezahualcoyotl, am Rande von Mexiko Stadt, schon reges Treiben. Noch ist der Geruch auszuhalten, doch je höher die Sonne steigt, um so beißender wird der Gestank. „Besonders schlimm ist es, wenn die Wagen mit den Krankenhausabfällen kommen“, erzählt eine Pepenadora (von pepena = Müllsortierung).
Die Müllhalde selbst ist ein fast zehn Meter hohes Plateau aus verdichtetem Müll, auf dem sich Pepenadores zwischen Müllfahrzeugen und Planierraupen tummeln, aber auch Materialeinkäufer und fliegende VerkäuferInnen, die verschiedene Speisen anbieten. Die Müllhalde gleicht einem riesigen Markt aus einer anderen Welt. Tatsächlich ist sie ein enormes informelles Unternehmen, das Eigentum eines einzelnen Führers (lider) ist, der nicht nur die Arbeit der MüllsammlerInnen und die Kommerzialisierung wiederverwertbarer Materialien kontrolliert, sondern auch das private Leben der Pepenadores.

Dort, wo sich die Müllfahrzeuge entleeren, beginnt die Sortierarbeit. Sofort durchsuchen die Pepenadores die Ladung nach verwertbaren Materialien wie PET, Aludosen, Karton, Glas, Metall oder Kunststoff. Das Stöbern im Müll erfolgt ohne spezielle Schutzmaßnahmen, was ein enormes Gesundheitsrisiko, vor allem für die Kinder darstellt. Die Müllsortierung wird meist von der ganzen Familie, oft schon seit mehreren Generationen ausgeübt. Beim Sammeln und Sortieren gibt es besondere Regeln: Wer zuerst ein Objekt in der Hand hat, bleibt sein Besitzer, auch wenn er es beiseite legt. Jedes Material hat seinen eigenen Preis, doch „alles hier ist von großem Wert für uns“, sagt Pantlan, die schon seit 40 Jahren auf der Müllhalde arbeitet.
Um auf der Müllhalde sammeln zu dürfen, verpflichten sich die Pepenadores, die Materialien ausschließlich an den lider zu verkaufen, was einen Verkauf weit unter dem Marktwert bedeutet. Die sortierten Rohstoffe werden bis nach China exportiert, von wo sie, in Kleider oder andere Gegenstände verwandelt, ihren Weg in die ganze Welt finden.
Doch nicht nur recycelbare Materialien werden aussortiert, auch Gegenstände, die dem persönlichen Gebrauch dienen: alte Kleider, Spielzeug oder defekte Geräte, die repariert werden.

Schon bevor der Müll auf die Halde kommt, wird er von den Arbeitern der Sammelfahrzeuge nach Verwertbarem durchsucht. Dadurch werden die Einkünfte der Pepenadores reduziert. Besonders haben sie das Müllgesetz, das die Trennung von organischen und nichtorganischen Abfällen vorschreibt, negativ zu spüren bekommen.
„Früher sind die Lastwagen mit abgelaufenen Lebensmitteln aus den Supermärkten oder mit den Marktabfällen gekommen. Alle sind wir zusammengelaufen, um Würste oder Joghurt mit nach Hause zu nehmen. Jetzt kommen die aber nicht mehr“, erzählt Adriana aus ihrer Kindheit auf der Müllhalde.
Die Diskrepanzen zwischen den Bemühungen um Existenzsicherung und Abfallvermeidung sind offensichtlich. Das Ziel der Stadt, die Pepenadores in das offizielle Abfallsystem und die Arbeit an industrialisierten Sortieranlagen zu integrieren, erweist sich als schwierig zu realisieren. Auf der Müllhalde teilen sich die Pepenadores ihren Arbeitstag selbst ein und verdienen durchschnittlich 80 Pesos (6,40 Euro) pro Tag, während sie sich in einer Sortieranlage geregelten Arbeitszeiten unterwerfen müssen und für ihre Arbeit nur noch den Mindestlohn von 54 Pesos bekommen.
Bis 1992 war die Müllhalde aber nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Wohnraum von 800 Müllsammlerfamilien. Ihre Hütten bauten sie aus dem, was die Halde hergab. Mittendrin stand sogar eine kleine Kapelle, in der Messen, Hochzeiten und Geburtstage gefeiert wurden. Die Pepenadores bildeten eine äußerst solidarische Gemeinschaft, die ihre BewohnerInnen von der Außenwelt abschirmt und Unberechtigten den Zutritt verwehrt. Als die Familien von der Halde vertrieben und in den schlammigen Ebenen des ehemaligen Texcocosees neu angesiedelt wurden, entstand die Siedlung Tlatel-Xochitenco, die heute 10.000 EinwohnerInnen zählt.
In Tlatel lenkt jede Straße den Blick unvermeidlich auf eine Müllhalde, die sich mächtig in die Höhe streckt und mehr als alles andere das Leben der BewohnerInnen bestimmt.
Kleine Windhosen lassen den Abfall über der Halde tanzen und verteilen ihn im ganzen Viertel. Eine Nutzung des öffentlichen Raumes wird fast unmöglich, was gravierende soziale Folgen hat. Die Nachbarn kennen einander kaum oder sind verfeindet, weil sie unterschiedliche Interessen verfolgen: Die einen wünschen sich nichts mehr als die Schließung der Müllhalde, für die anderen ist sie Lebensgrundlage.

Nachsatz: Auch hier gäbe es zukunftsfähige Ansätze. In meiner Diplomarbeit „Tlatel – Die Stadt am Müll“ habe ich ein Entwicklungskonzept für Tlatel entworfen, das die Müllhalde als Potenzial versteht, welches direkt für das Viertel genutzt werden kann. Zwischen Halde und Siedlung sollen Werkstätten entstehen, die die verschiedenen Rohstoffe weiterverarbeiten und so direkte Einkommensmöglichkeiten schaffen. Aus dem organischen Müll des Viertels soll Energie für die Werkstätten gewonnen werden. Ziel ist es, ein räumliches und soziales Zusammenleben zu ermöglichen und die BewohnerInnen in ihrem Recht auf Stadt zu bestärken.


AutorenInfo:
Astrid Erhartt-Perez Castro studierte Architektur an der TU-Wien und der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá und recherchierte 2005 ein halbes Jahr in Mexiko-Stadt zum Thema Müll als Ressource für eine nachhaltige Stadtteilentwicklung. Zur Zeit lebt und arbeitet sie in Bogotá, Kolumbien.

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