Leben mit „Verschwundenen“

Von Martina Kopf · · 2007/06

Ein neues Buch beschäftigt sich mit der therapeutischen Arbeit mit Angehörigen „verschwundener“ Personen. Südwind-Redakteurin Martina Kopf sprach mit der Autorin Barbara Preitler über ein auch politisch brisantes Thema.

Mehr als zwanzig Jahre haben sich Nichtregierungsorganisationen weltweit darum bemüht. Ende 2006 wurde nun die UN-Konvention zum Schutz aller Personen vor dem gewaltsamen oder unfreiwilligen Verschwinden von der Vollversammlung der Vereinten Nationen bestätigt.
Was verbirgt sich hinter dem unspektakulären Wort „Verschwinden“ bzw. „Verschwindenlassen“? Welche Schicksale sind damit verbunden, was bedeutet es für Menschen, mit der Ungewissheit über das Los von Angehörigen zu leben? Die österreichische Psychotherapeutin und langjährige Menschenrechtsaktivistin Barbara Preitler fächert in ihrem Buch „Ohne jede Spur …“ ein Thema, von dem weltweit sehr viele Menschen betroffen sind, von vielen verschiedenen Perspektiven her auf.

Darauf aufmerksam wurde Barbara Preitler durch ihre Tätigkeit bei Hemayat, einem Verein zur Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden in Wien. In der therapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen ist Preitler immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass Menschen nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Sei es, dass sie auf der Flucht getrennt wurden, oder Bewaffnete das Haus gestürmt und jemand aus der Familie mitgenommen haben. Immer wieder passiert auch, dass zu Hause plötzlich niemand mehr ans Telefon geht, oder der Nachbar, der das einzige Telefon im Ort hat, sagt: „Deine Verwandten sind nicht mehr da, ruf nicht mehr an, du gefährdest uns.“ Die Hälfte aller KlientInnen bei Hemayat ist davon betroffen, schätzt Preitler. In die Therapie kommen sie meist aus anderen Gründen, doch im Verlauf kristallisiert sich die Ungewissheit über das Schicksal Angehöriger oft als zentrales Thema heraus, als „der Schmerz, der am meisten nagt“, so Preitler. Als Therapeutin stößt man dabei an Grenzen. Wenn Angehörige ermordet wurden, gibt es therapeutisches Handwerkszeug, den psychischen Prozess der Überlebenden zu begleiten. „Kommt aber jemand zu mir und sagt, ‚jemand aus meiner Familie ist verschwunden‘, weiß ich genau so viel und genau so wenig wie dieser Mensch“, umreißt die Autorin das Problem.

Trotz unseres Medien- und Kommunikationszeitalters verlieren Menschen einander auf der Flucht, in gewalttätigen Konflikten, bei Naturkatastrophen, Kriegen und unter Terrorregimen. In der historischen Aufarbeitung des Themas spricht das Buch sehr unterschiedliche Facetten an, ein Schwerpunkt liegt allerdings auf dem „Verschwindenlassen“ als politische Strategie, die bewusst genutzt wird, um Gemeinschaften und Gruppen zu terrorisieren. „Meist verbindet man das Verschwindenlassen mit den lateinamerikanischen Diktaturen“, erklärt die Autorin, „es ist aber leider in allen Diktaturen der Welt gang und gäbe.“ Das haben schon die Nazis erkannt, als sie 1941 den „Nacht-und-Nebel-Erlass“ beschlossen, der das gezielte „Verschwindenlassen“ politischer GegnerInnen in den besetzten Gebieten ermöglichte. Mehr noch als mit öffentlichen Hinrichtungen konnte man damit die Gesamtbevölkerung einschüchtern. Neben Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigt sich die Autorin mit Kambodscha, Guatemala und Ruanda, den Bürgerkriegen in Sri Lanka, Bosnien und Tschetschenien sowie den Diktaturen in Argentinien und Chile. Ihr Resumée: „Es ist ein Menschenrecht zu erfahren, was mit meinen Angehörigen passiert.“
Dieses Menschenrecht zu wahren, sollte auch in der humanitären Hilfe bei Katastrophen mehr Beachtung finden. Erfahrung in dem Bereich sammelte die Autorin durch den Aufbau eines Projekts zur Ausbildung einheimischer Traumafachleute in Sri Lanka nach dem Tsunami (siehe SWM 3/06, S. 36). „Es ist beim heutigen Standard möglich, den Leuten eine Kamera in die Hand zu drücken, bevor sie Leichen verbrennen oder begraben“, betont Preitler die Notwendigkeit, Tode zu dokumentieren. Auch Exhumierungen, denen sie im Buch einen eigenen Abschnitt widmet, hält sie psychosozial für sehr wichtig.

Mit Empathie und großem Faktenwissen spürt Preitler nach, was ein Leben mit „verschwundenen“ Angehörigen individuell heißt, und lässt daraus wieder erkennen, was es für Gemeinschaften und Gesellschaften bedeutet, mit ungeklärten Schicksalen und nicht betrauerten Toden zu leben. Das Buch ist gut zugänglich und spannend zu lesen. Es ist empfehlenswert für alle, die mit Flüchtlingen oder Überlebenden von gewalttätigen Konflikten und Katastrophen zu tun haben, und schärft den Blick für das häufig Unsichtbare im Hintergrund.

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