Lateinamerikas Bruderzwist

Von Redaktion · · 2008/05

Hugo Chávez streitet sich mit seinem ehemaligen „hermano“ (Bruder) Àlvaro Uribe. Die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien wachsen. Noch bleibt es bei Wortgefechten und Säbelrasseln. Ein Augenzeugenbericht aus dem Grenzgebiet von Jeroen Kuiper (Text) und Ronald de Hommel (Fotos).

Es macht doch nichts, dass ihr etwas zu spät seid. Die Revolution kennt keine Zeit“, entschuldigt uns David Corredor Cuéllar in seinem Büro in Cúcuta, der wichtigsten kolumbianischen Stadt entlang der Grenze zu Venezuela. Corredor ist nationaler Koordinator der „Bolivarischen Sozialistischen Bewegung“ (MSB) für Kolumbien. Die Revolution, von der der Kolumbianer redet, ist natürlich die bolivarische Revolution im Nachbarland Venezuela.
„Logisch, dass es jetzt Streit gibt zwischen Uribe und Chávez. Uribe dient nur den Interessen der US-Amerikaner, Imperialisten und Neoliberalen“, meint Corredor in seinem Parteibüro. „Uribe ist nicht wirklich an Frieden in unserem Land interessiert, denn zu viele Leute in seiner Umgebung verdienen gut an dem Krieg. Wir wollen einen Dialog mit der FARC-Guerilla, genauso wie mit den anderen streitenden Parteien in Kolumbien. Uribe sieht das jedoch anders. Wir unterstützen Hugo Chávez und seine Vermittlungsversuche mit den FARC. Wir bewundern die bolivarische Revolution.“
Menschen wie Corredor sind eine Ausnahme in Kolumbien, denn momentan überwiegen vor allem die Spannungen zwischen Kolumbien und Venezuela. Zwischen beiden Bruderländern (schätzungsweise vier Millionen KolumbianerInnen leben in Venezuela) schien lange Zeit eine besondere Art von Verbindung zu bestehen. Trotz enormer politischer Unterschiede waren Uribe und Chávez regelmäßig schulterklopfend hier und dort in Lateinamerika zu sehen. Das war schon eigenartig, denn das sozialistisch orientierte Venezuela müsste doch eigentlich eine enorme Abneigung gegenüber dem Konservatismus von Uribe haben. Das musste irgendwann schief gehen, und das ist es am Ende auch.
Anlass für den Streit waren die abgebrochenen Vermittlungsversuche von Chávez mit der FARC-Guerilla, den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“, um verschiedene prominente Geiseln, darunter die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, frei zu bekommen. Uribe verbot Chávez die Verhandlungen mit den FARC, nachdem er ihn zuerst damit betraut hatte. Kurz nach dem Besuch von US-Außenministerin Condoleezza Rice Ende Jänner in Bogotá beschuldigte Chávez Kolumbien und die USA, einen militärischen Angriff auf Venezuela von kolumbianischem Boden aus zu planen. Chávez nannte Uribe einen „Diener der USA, einen Feigling, einen Manipulator“.
Die Spannungen erreichten einen vorläufigen Höhepunkt nach dem militärischen Einfall Kolumbiens in Ecuador, um ein FARC-Lager zu bombardieren. Sie halten auch nach der oberflächlichen Versöhnung am Gipfeltreffen in der Dominikanischen Republik im März noch weiter an. Obwohl die venezolanische Wirtschaft wegen Rekordpreisen auf dem Ölmarkt jährlich um mehr als zehn Prozent wächst, sind die Probleme im Land groß. Eine der größten Sorgen des Präsidenten ist momentan die zunehmende Knappheit an Lebensmitteln. Während Chávez die großen Lebensmittelkonzerne im Land, die traditionell zur Opposition gehören, der Sabotage bezichtigt, ist einer der wichtigsten Gründe für den Mangel jedoch die Tatsache, dass es sich für Lebensmittelproduzenten einfach nicht mehr lohnt, Produkte herzustellen, seitdem Chávez vor fünf Jahren Höchstpreise für bestimmte Lebensmittel festlegte. Vor allem Milch, Eier, Huhn, Fleisch, Zucker und Kaffee sind kaum noch zu bekommen.

Die subventionierten Lebensmittel, wenn vorhanden, sind aber nicht nur bei den VenezolanerInnen beliebt. Sie werden massenhaft über die Grenze nach Kolumbien geschmuggelt, wo die billigen Lebensmittel mit großem Gewinn verkauft werden. Der Grenzfluss Táchira, zehn Minuten Fahrt vom Stadtzentrum Cúcutas entfernt, ist flach und für LKWs keine große Hürde. „Jede Nacht überqueren dutzende LKWs den Grenzfluss. Die venezolanischen Zöllner sind durch und durch korrupt“, meint José Eustorgio Colmenares Ossa, Direktor der Lokalzeitung La Opinión in Cúcuta.
Der Schmuggelstrom von Venezuela Richtung Kolumbien hat mittlerweile derartige Formen angenommen, dass Präsident Chávez Ende Jänner die Mision Soberanía Alimentaria (Mission Ernährungssicherheit) anordnete. Er schickte tausende Soldaten in die Grenzregion, um den Schmuggel zu stoppen. Daraufhin wurden dutzende von Ladeneigentümern, die unter Verdacht standen, sich an dem Schmuggel zu beteiligen, in der venezolanischen Grenzstadt San Antonio del Táchira gezwungen, ihre Läden zu schließen. So auch Cheo, der seinen Nachnamen nicht nennen will und mit finsterer Miene in der Mittagshitze vor seinem geschlossenen Lebensmittelladen sitzt. „Vor zwei Tagen hat die Polizei mich gezwungen, meinen Laden dicht zu machen. Die Zahlen in meinen Büchern stimmten nicht“, fügt er diplomatisch hinzu. „Wahrscheinlich sollte ich mir eine andere Arbeit suchen, denn das kann hier ewig dauern.“

In Zeiten ohne Spannungen zwischen beiden Nachbarstaaten ist die Grenze zwischen Cúcuta und San Antonio del Táchira ganz einfach zu überqueren. BewohnerInnen der Grenzregion dürfen die Grenze sogar ohne Reisepass passieren und bis San Cristóbal frei reisen. Auch Leute mit weniger guten Absichten kommen so problemlos über die Grenze. Zeitungsdirektor Colmenares hat keine Zweifel: „Verschiedene FARC-Kommandanten wohnen in Venezuela.“
Der kolumbianische Bürgerkrieg hat für einen gewaltigen Exodus nach Venezuela gesorgt. Man schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf etwa 200.000. Einige von ihnen sitzen an diesem Morgen im kleinen Büro der UN-Flüchtlingsorganisation in San Cristóbal, wo MitarbeiterInnen der UNO und ein Vertreter einer venezolanischen Bank einen Workshop über Mikrokredite veranstalten. „Es ist schwierig, finanzielle Mittel für die Flüchtlinge zu finden“, meint Enrique Valles, der spanische Leiter des Büros. „Viele Geberländer sagen, Venezuela sei ein reiches Land. Zum Glück will die Banco Pueblo Soberano unser Mikrokredit-Programm mitfinanzieren.“ Dabei hat Valles aber ein spezifisch venezolanisches Problem. „In den meisten Ländern, wo wir aktiv sind, versuchen wir die Zinsen für die Kredite so niedrig wie möglich zu halten. Aber im sozialistischen Venezuela scheint die Bank das Geld am liebsten zu verschenken. Das wollen wir nicht, deswegen verhandeln wir hier über höhere Zinsen für die Mikrokredite.“

Nicht nur Flüchtlinge kommen von Kolumbien nach Venezuela, auch die Kriminalität hat in den letzten Jahren in der Grenzregion stark zugenommen. Das weiß Javier Pérez, Präsident des Viehzüchtervereins Asogata in San Cristóbal, nur all zu gut. Man findet Pérez in seinem Büro auf dem Jahrmarktgelände im Norden der Stadt. Die Feria ist gerade voll im Gange. Venezolanische Cowboys laufen mit großen Hüten, Stiefeln und Polarbierdosen in Massen über das Gelände zwischen den ausgestellten Kühen. Etwas weiter, hinter den ausgestellten Traktoren, ist ein ohrenbetäubendes Spektakel im Gange: Coleo, das Schwanzziehen.
In einer Art überdachtem Schuhkarton von etwa 100 Meter Länge mit Tribünen an beiden Seiten galoppieren fünf Herren auf ihren Pferden hinter einem Stier her. Wer als erster den Schwanz des Stiers zu fassen bekommt und das Tier auf den Boden zieht, hat einen Punkt gewonnen. Die venezolanische Masse kocht, aber Präsident Javier Pérez hat dafür kein Auge. „Heute sind wieder zwei Viehzüchter entführt worden“, erzählt er in seinem geräumigen Büro. „Einer der beiden ist aus dieser Gegend. Der andere wohnte weiter nördlich in der Provinz Zulia. Wohnte, denn ihn haben sie schon ermordet.“ Laut Pérez sind momentan 27 der 1.800 Mitglieder des Verbandes entführt. Die Entführungen werden sowohl von „normalen“ Kriminellen als auch von den FARC verübt. Ihr Ziel ist dasselbe: so viel Geld wie möglich Geld erpressen.

Die Kriminalität in der Grenzregion hat in den letzten Jahren so stark zugenommen, dass viele Viehzüchter in die Stadt gezogen sind. Sie lassen ihre Ländereien von einem Aufseher verwalten. Deswegen haben die Entführungen mittlerweile auch die Stadt erreicht. „Es ist der neueste Trend“, meint Pérez nüchtern. Ob er selber Angst habe? „Natürlich! Wenn ich unterwegs bin, sorge ich dafür, dass ich immer telefonisch mit anderen in Kontakt bin. Am liebsten gehe ich nirgendwo alleine hin.“
Laut Pérez gibt es schon noch eine Zukunft für die Viehzüchter in der Region, aber nur wenn sich die Sicherheitslage ändert. „Durch die Unsicherheit investieren die Bauern hier immer weniger. Auch deswegen gibt es Milch- und Fleischmangel. Die Regierung sollte mehr Militär schicken. Sie hat keine Ahnung vom Leben hier in den Bergen, so weit von der Hauptstadt entfernt. Chávez streitet sogar die Entführungen durch die FARC auf venezolanischem Boden ab. Das ist eine enorme Beleidigung für uns.“

Der holländische Journalist Jeroen Kuiper lebte lange in Venezuela und ist nun in Deutschland wohnhaft, der freiberufliche Fotojournalist Ronald de Hommel lebt in Amsterdam und Paris.

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