LANDREFORM

Von Ralf Leonhard · · 2005/03

Landreformen wurden im Laufe der Geschichte nicht vorrangig im Interesse landloser Bauern, sondern aus höherem staatlichem Kalkül verordnet. Die Verteilung von Staatsland war immer relativ einfach. Doch wenn es um die Enteignung von Großgrundbesitzern ging, kamen die meisten Reformen ins Stocken. Und die notwendigen Startimpulse für die Begünstigten scheiterten meist am knappen Budget. Das beweist nicht, dass Agrarreformen überholt sind. Bauernorganisationen in aller Welt fordern sie heute als Instrumente der Erfüllung von Menschenrechten ein.

Seit der Antike gilt Landreform als Instrument staatlicher Umverteilungspolitik, die den gesamtgesellschaftlichen Nutzen zum Ziel hat. Schon der athenische Staatsmann Solon (ca. 640-560 v. Chr.) verfügte die Entschuldung der Bauern, nahm aber wegen der Drohgebärden der Großgrundbesitzer Abstand von einer Umverteilung. Ein halbes Jahrtausend später scheiterten Tiberius und Gaius Sempronius Gracchus in Rom mit ihrer Landreform ebenfalls am Widerstand der Oligarchie.
Das mittelalterliche Lehenssystem betrachtete die Bauern nicht als Eigentümer des Bodens, den sie bebauten, sondern als dessen Zubehör. Eigentümer allen Landes war der König, der es an seine Herzöge verteilte, die wiederum die Grafen mit Gütern belehnten. Der jeweilige Grundherr konnte nach Belieben nicht nur über die Ernte und die Arbeitskraft der Bauern verfügen und sie zu Kriegsdiensten verpflichten, sondern sich in deren privatesten Bereich einmischen. In einer Anzahl von Bauernkriegen versuchten die Unterdrückten vergeblich, das Willkürsystem abzuschaffen.

In Österreich verfügte erst Joseph II. im Jahr 1781 die Abschaffung der Leibeigenschaft. Doch die Bauern blieben noch lange in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Grundherren. Erst 1848, als die bürgerliche Revolution die autoritäre Monarchie kurze Zeit erschütterte, nutzten die Reformer die Gunst der Stunde. „Grundentlastungsgesetz“ hieß das Gesetz, das am 31. August im österreichischen Reichstag approbiert und eine Woche später von Kaiser Ferdinand sanktioniert wurde. „Bauernbefreiungsgesetz“ nannte es der böhmische Bauernsohn und Reichstagsabgeordnete Hans Kudlich, der es entworfen hatte. Seine Darstellung des Elends der von schikanösen Frondiensten für die aristokratischen Grundherren gequälten Bauern fiel so drastisch und anschaulich aus, dass die Abgeordneten das Projekt ohne Debatte im Ausschuss sofort im Plenum annahmen.
Kudlich musste schon wenige Wochen später nach dem Oktoberaufstand, der letzten Erhebung der österreichischen Revolution 1848, fliehen und wurde wegen Aufwiegelung der Bauern in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Aber sein Gesetz wirkte nachhaltig: Die Grundentlastung brachte nicht nur fast zwölf Millionen Bauern der Donaumonarchie rund 17 Millionen Hektar Land, sie spülte auch frisches Geld in die Kassen der Grundherren und trug damit zur Modernisierung und Industrialisierung bei. Durch die Grundentlastung und Aufhebung der Erbuntertänigkeit wurden die Bauern ab 1848 freie und eigenverantwortliche Unternehmer. Die Grundherren wurden mit zwei Drittel des Bodenwertes entschädigt. Die Hälfte davon mussten die begünstigten Bauern abstottern, die andere Hälfte trug der Staat. Die früheren Grundherren, der Adel, das Großbürgertum und die Kirche entwickelten sich durch die Wiederanlage der an sie gezahlten Entschädigungen zu Wirtschaftsführern, Industriemagnaten, Aktionären und Bankiers. Die Bauernbefreiung hatte somit langfristig weitreichende Folgen für die Entwicklung des Staates und seiner Wohlfahrt; sie war eine herausragende sozialpolitische Tat. An diesem Modell orientierten sich die meisten Landreformen des 20. Jahrhunderts.

Landreform in Lateinamerika: Das von den Spaniern aufgepfropfte europäische Lehenssystem wurde weitgehend intakt in die jungen unabhängigen Republiken hinübergerettet. José Artigas, der in Uruguay zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem spanischen Joch auch die ungerechte Landverteilung abschütteln wollte und eine Agrarreform plante, wurde ins Exil geschickt. Erst die mexikanische Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts sollte eine Landreform wagen. Den Campesinos, in der Regel in Dorfgemeinschaften organisiert, wurden Latifundien als sogenannte Ejidos zur gemeinsamen Bewirtschaftung überschrieben. Diese waren unteilbar und unveräußerlich. Damit wurde verhindert, dass die Bauern den finanziellen Verlockungen von Investoren nachgeben und ihre Existenzgrundlage verlieren könnten. Insgesamt wurden über 25 Millionen Hektar Land an Ejidos verteilt. 1940, am Ende der Präsidentschaft des Reformers Lázaro Cárdenas, machten die Ejidos 47,5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus und boten 1,4 Millionen Campesino-Familien eine Lebensgrundlage. Die Umverteilung im großen Stil änderte aber nichts an der Macht der Agraroligarchie. Diese nützte ihren politischen Einfluss, um staatliche Subventionen und billige Kredite einseitig auf ihre Latifundien zu kanalisieren.
Die Strahlkraft dieser Revolution blieb begrenzt. Die lateinamerikanischen Gesellschaften waren von der beharrenden Kraft des Dreigestirns Landoligarchie, Armee und Katholische Kirche geprägt. Die Einflüsse modernen, kapitalistischen Denkens machten sich nach und nach in den Städten bemerkbar. Auf dem Land aber blieben die althergebrachten Strukturen unverändert. Veränderungen in den Machtverhältnissen waren nur durch Revolution vorstellbar.
Der Versuch, in Guatemala im Rahmen der demokratischen Spielregeln eine überfällige Agrarreform durchzuziehen, die auch die Interessen der US-amerikanischen Bananenkonzerne betroffen hätte, endete 1954 in der Katastrophe. Die USA rüsteten eine Invasionstruppe aus und schickten ihre Kampfflugzeuge, um den demokratisch gewählten Präsidenten Jacobo Arbenz samt seinen unbequemen Plänen zu entsorgen. Eine Abfolge von Diktaturen und Militärregimes mit ziviler Fassade sorgte dafür, dass die Landeigentumsverhältnisse unangetastet blieben. In Guatemala ist Landreform heute noch ein Tabu.

Erst die kubanische Revolution, die mit einer sehr radikalen Landreform die Oligarchien in ganz Lateinamerika in Angst und Schrecken versetzte, löste eine Kettenreaktion von Reformprogrammen aus. Denn der Kuba-Schock förderte die Erkenntnis, dass das Land in der Hand der Großgrundbesitzer unproduktiv blieb und jeder Entwicklung im Wege stand. In ihrer Studie „Die Agrarstruktur in sieben lateinamerikanischen Ländern“ hielten Solon L. Barraclough und Arthur L. Domike 1973 fest: „Die Verteilung des landwirtschaftlichen Einkommens und die Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung durch ständige Unterbeschäftigung am Rande des Existenzminimums dahinvegetiert, sind Beweis für eine starre Klassenstruktur und Hauptursache des schwachen Binnenmarktes, der eine industrielle Expansion verhindert.“
Die US-Regierung, die strategischer dachte als die reaktionären Regimes südlich des Río Grande, verordnete ihren Verbündeten im Rahmen der „Allianz für den Fortschritt“ ein Paket von Sozialreformen, das den revolutionären Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen sollte. So wurden denn von Honduras bis Chile Agrarreformen angegangen, die vor allem Staatsland an Bauern verteilten und Genossenschaften entstehen ließen. Der private Großgrundbesitz wurde aber nicht oder nur sehr zögerlich angetastet. Und die Umverteilung erfolgte so langsam, dass in den meisten Ländern nach 20 Jahren Agrarreform mehr landlose Bauern auf eigenen Grund warteten als vorher.
Die Trendwende setzte nach dem Pinochet-Putsch in Chile 1973 ein. Der Diktator holte sich Wirtschaftsberater der Universität Chicago ins Land, die ihre monetären Theorien im chilenischen Experimentierlabor umsetzen konnten. Der Privatisierungsgedanke, der dieses Modell auszeichnet, bedeutete für die Landwirtschaft die Rückkehr zum Latifundienwesen und die Ausrichtung auf Exportmonokulturen. Die Durchsetzung des extremen Marktradikalismus wurde durch den repressiven Staat ermöglicht. Die klassischen Exportprodukte wurden jetzt – treu der Regel von den komparativen Kostenvorteilen – durch so genannte nichttraditionelle Güter wie Äpfel, Weintrauben, Broccoli oder Nüsse ersetzt. Das Militärregime in Brasilien verstand unter Landreform die Erschließung des als unproduktiv betrachteten Amazonasurwaldes durch Investoren aus den Metropolen, denen gigantische Flächen zu Schleuderpreisen angeboten wurden. Landlose Bauern, die von den fruchtbaren Böden im Süden verdrängt worden waren, wurden vorausgeschickt, um den Wald niederzubrennen und den Boden in Weideland zu verwandeln.

Erst mit der Sandinistischen Revolution in Nicaragua (1979-1990) kam Agrarreform wieder auf die Tagesordnung. Die Sandinisten folgten einem Modell, das die Staatsfarmen als dynamischen, Export orientierten Sektor in den Mittelpunkt der Modernisierungsstrategie stellte. Genossenschaften, die sich zusammenschlossen, um in den Genuss von Landzuteilungen zu kommen, sollten sowohl Exportgüter wie Kaffee, Zuckerrohr oder Baumwolle produzieren, als auch die Versorgung der Bevölkerung mit den Grundnahrungsmitteln Mais, Bohnen und Reis sicherstellen. Auch Kredite und technische Beratung waren vorgesehen. Dass diese Landreform weder den beabsichtigten wirtschaftlichen noch politischen Erfolg brachte, wurde später auch damit begründet, dass die Ausweitung des konterrevolutionären Krieges auf die Nord- und Zentralregion jede Konsolidierung verhinderte. Auch die Sandinisten erkannten, dass konservative Kleinbauern sich nicht so einfach in kollektive Wirtschaftsformen einspannen lassen. Die Kooperativen im Kriegsgebiet wurden zu Wehrdörfern, viele Bauern liefen zu den Contras über.
Auch auf den Philippinen, die mit den meisten lateinamerikanischen Staaten die koloniale Vergangenheit unter den Spaniern teilen, begann die Demokratisierung Mitte der 1980er Jahre mit einer Landreform. Doch machte diese bei den Gütern der Präsidentin Corazon Aquino und anderer führender Familien Halt.

Mit der Abwahl der Sandinisten 1990 endete eine Etappe nicht nur für Nicaragua, sondern für ganz Lateinamerika. In Mexiko schuf die Regierung von Carlos Salinas de Gortari mit der Aufhebung des Artikels 27 der Verfassung die Voraussetzung für das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA). Die Ejidos wurden dem Privatland gleichgestellt, können also jetzt geteilt und verkauft werden. Die im NAFTA dekretierte Einstellung von Subventionszahlungen für die Landwirtschaft und der Abbau von Zollschranken setzte die kleinbäuerliche Landwirtschaft einer ungleichen Konkurrenz aus, der sie nicht gewachsen ist. Das ist auch der Zweck: Wie 20 Jahre vorher in Chile wurde der Boden bereitet für ausländische Investitionen und eine neuerliche Konzentration des Landeigentums. Die Ernährungssicherheit blieb dabei auf der Strecke.
Seit den 1990er Jahren gilt Agrarreform als veraltetes Konzept. Alles, was der Marktideologie widerspricht, gilt als Entwicklungshemmnis. Land wird als Ware betrachtet. Da in Lateinamerika aber weiterhin zuviel fruchtbares Land in der Hand weniger Großgrundbesitzer und Konzerne konzentriert ist und brach liegt, haben die ExpertInnen der Weltbank die so genannte „Market Assisted Agrarian Reform“ erfunden. Die Theorie dahinter: Landarme Bauern sollen – unterstützt durch die Regierung – das Land, das von Reichen auf den Markt geworfen wird, kaufen. Mit dem Ertrag der Agrarproduktion sollen sie den Kaufpreis abstottern. Der kleine Schönheitsfehler: In der Praxis werden nur die schlechtesten Böden angeboten und zu überhöhten Preisen verkauft. Selbst bei günstigsten Voraussetzungen sind die Bauern in der Regel außerstande, profitabel zu wirtschaften.
Bauernorganisationen rund um die Welt fordern daher die Abkehr von marktgestützten Agrarreformen. Bewegungen in Lateinamerika, Europa und Asien haben sich zum globalen Bündnis La Vía Campesina zusammengeschlossen, das für eine integrale Landreform eintritt – zuletzt auf einer großen Agrarreformkonferenz, die vergangenen Dezember in Valencia stattfand. Das Treffen, so Sofía Monsalve, die Koordinatorin der globalen Agrarreformkampagne, sollte dazu beitragen, „dass die Agrarreform wieder ganz oben auf die Prioritätenliste von sozialen Bewegungen und Regierungen gesetzt wird“. Die 500 Delegierten aus 70 Ländern und vier Kontinenten wandten sich dort einmal mehr gegen die Politik von Weltbank und Weltwährungsfonds und verurteilten „die Merkantilisierung des Landes in allen Ländern außer Kuba“, denn diese „vermehrt die Konzentration des Landes in wenigen Händen, vor allem großen kapitalistischen Konzernen“.

Tatsächlich ist Ackerland in den letzten Jahren wieder zunehmend zum Spekulationsobjekt geworden. In Ländern wie Kolumbien und Mexiko benutzen die Drogenbarone Immobilientransaktionen zur Geldwäsche und sorgen für die gewaltsame Vertreibung von Campesinos.
Unter integraler Landreform versteht La Vía Campesina eine Politik der Armutsbekämpfung, die vom Menschenrecht auf Nahrung ausgeht. Durch Landumverteilung, technische Beratung und günstige Kredite sollen Bauern in die Lage versetzt werden, nicht nur sich und ihre Familien zu ernähren, sondern auch genügend Überschüsse zu erzielen, um die Wirtschaft zu beleben. Diese Politik bedingt auch den Zugang zum Markt und rentable Preise für die Agrarprodukte. Die Bauern dürfen also nicht der Konkurrenz von hoch subventioniertem Mais oder Reis aus den USA oder Japan ausgesetzt sein. Denn mit Markt hat diese Konkurrenz nichts zu tun. Wie Peter Rosset vom FoodFirst Institute in Kalifornien nachweist, sind großflächige Monokulturen nur dadurch rentabel, dass Energie- und Umweltkosten nicht einberechnet werden. Intensiv bebaute Äcker mit Kombinationswirtschaft werfen höhere Erträge pro Hektar ab und sind gleichzeitig gegen witterungsbedingte Missernten und Schädlinge resistenter. Ökologische und ökonomische Vernunft sprechen für kleinräumige, diversifizierte Landwirtschaft. Aber das Umdenken in den Institutionen wird durch die Interessen der Agrarlobbys verzögert.

Der Autor arbeitete lange als Korrespondent deutschsprachiger Medien in Nicaragua und lebt nunmehr als freier Journalist und Mitarbeiter des Südwind-Magazins in Wien.

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