Die Luft ist glasklar. Über die weite, karge Hochfläche fegt ein eisiger Wind. Am Horizont heben sich die Eisgipfel der Königskordillere ab. Wir sind in der Ruinenstadt von Tiwanaku, fast 4.000 Meter hoch gelegen – unweit des Titicaca-Sees. Das weltberühmte Sonnentor, aus gedrungenen, überdimensionalen Steinobelisken errichtet, erinnert an vergessene Herrscher. Zeugen einer vor-inkaischen Hochkultur, die sich um das Jahr 1000 herum aufgelöst hat, „verschluckt von den Schatten der Nacht“, wie später die Inka sagten.
Einer, der sich als Nachkomme dieser Andenkulturen begreift, steht nun am 21. Jänner hier im Licht, umringt von Schamanen, die ihn symbolisch zum Herrscher küren. Am Tag darauf wird er in La Paz offiziell zum Präsidenten der Republik Bolivien ernannt. Er ist der erste regierende Indio seit einem halben Jahrtausend. Vor ihm liegt der schwierigste Spagat seines Lebens: Er muss einen „Zusammenstoß der Kulturen“ in einen „Dialog der Kulturen“ überführen, sonst bricht Bolivien auseinander.
Für viele Angehörige der indianischen Bevölkerungsmehrheit ist der bolivianische Nationalstaat eine Fiktion geblieben. Sie fühlten sich – mit Recht – marginalisiert und ausgeschlossen. „Indio“ wird noch heute vielfach als Schimpfwort gebraucht. Die Revolution von 1952/53 hat zwar das allgemeine Wahlrecht eingeführt und das Land denen gegeben, „die es bebauen“. Doch ihre Landreform war nicht nur gegen die Großgrundbesitzer gerichtet, sondern auch gegen traditionelle indianische Eigentums- und Nutzungsformen. „Die Menschenrechte der Indios wurden erst anerkannt, wenn sie aufhörten, Indios zu sein“, sagt die Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui.
In der Kultur des Widerstands jedoch haben sich die Muster der alten Andenkultur am Leben erhalten. Auf dem Lande tritt vor den Wahlen oft die Dorfgemeinschaft zusammen, um zu entscheiden, „wen wir wählen“. Das widerspricht dem westlichen Grundsatz freier, gleicher und geheimer Wahlen. Wenn Verhandlungen ins Stocken gerieten, pflegte Bauernführer Evo Morales nicht seine Berater um Rat zu fragen, sondern „las bases“, die Vollversammlung der Bauernrepräsentanten.
Wenn man in diesen Tagen nach Bolivien kommt, fällt man von einer Überraschung in die andere. Wer etwa, so wie der Autor, gedacht hat, nach dem Wahlsieg von Evo Morales ein polarisiertes Land anzutreffen, mit einer verängstigten Bourgeoisie, abwehr- bis fluchtbereiten politischen Eliten und sozialen Bewegungen, die in frivol-aggressiver Weise von „ihrem Präsidenten“ die Erfüllung jahrelang aufgestauter Forderungen verlangen, der hat sich fürs Erste gründlich getäuscht. „Wir müssen jetzt auch Geduld haben, ein Präsident ist schließlich kein Weihnachtsmann, der Geschenke verteilen kann“, sagt ein Aymara aus La Paz, wo die künftige Regierungspartei MAS 67% der Stimmen bekam. Selbst das Gerangel um Ministerposten hält sich in Grenzen.
Es ist derzeit allerdings schwierig, MAS-Leute zu treffen. Die arbeiten fieberhaft an einem Regierungsprogramm. Die alten Eliten schweigen, jedenfalls für den Moment. Zu eindeutig ist ihre Wahlschlappe. Und der Nationale Wahlgerichtshof (CNE) freut sich in Radio- und Fernsehspots über die historische Wahlbeteiligung von 84% – mehr als 10% höher als bei den Wahlen zuvor.
Bolivien wurde noch vor wenigen Jahren als „Musterland der Reformen“ und „Beispiel für demokratische Stabilität“ bezeichnet. Heute gilt es als Land an der Grenze zur Unregierbarkeit. Die neoliberale Strukturanpassung von Mitte der 1980er Jahre beseitigte die Hyperinflation und schuf stabile makro-ökonomische Rahmendaten. Doch das Wirtschaftswachstum blieb hinter den Erwartungen und Erfordernissen zurück. Die Handelsbilanz ist chronisch defizitär. Die Kaufkraft eines Mindestlohns ging zwischen 1982 und 1990 um 70% zurück. 63% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar am Tag. Auf dem Lande sind es sogar 82%. Und es herrscht krasse Ungleichheit bei Einkommen und Konsum. Die Grenzen zwischen arm und reich decken sich weitgehend mit den ethnischen Trennlinien.
Andererseits wurde Bolivien zum Experimentierfeld der internationalen Entwicklungshilfe: Ausländische Hilfsgelder entsprechen zwischen acht und zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts und finanzieren praktisch zur Gänze die öffentlichen Investitionen. Mit einem ehrgeizigen Projekt so genannter neoliberaler Reformen der zweiten Generation (weitere Privatisierungen, Verwaltungsreformen, Bildungsreform u.a.) versuchte man Mitte der 1990er Jahre, das Modell zu modernisieren. Die Reformen waren zum großen Teil von ausländischen Entwicklungsagenturen konzipiert und von der Regierung relativ unsensibel von oben nach unten durchgesetzt worden.
Noch deutlicher als der Wahlsieg von Evo Morales – und von ebensolcher historischen Bedeutung – ist die Absage an das neoliberale Modell. Bei den Wahlen vom 18. Dezember sind die politischen Träger des außengesteuerten Reformprozesses in Bolivien verschwunden. Das traditionsreiche Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), die Partei der Revolution von 1952, die dann die neoliberale Strukturanpassung von 1985/86 und die neoliberalen Reformen Mitte der 1990er Jahre durchsetzte, bekam gerade sechs Prozent. Die anderen traditionellen Parteien haben überhaupt zu existieren aufgehört.
Mit einem Wahlsieg von Evo Morales und seiner MAS (Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus) hatte man gerechnet, aber bei weitem nicht in dieser Höhe, mit einer absoluten Mehrheit – was noch keinem Kandidaten in der Geschichte der Republik Bolivien je gelungen war. Das plausible Szenario war ein Wahlsieg der MAS – und eine Koalition der Verlierer, um einen Presidente Evo zu verhindern. Nach dem Sturz zweier Präsidenten in weniger als zwei Jahren und praktisch permanenten Demonstrationen und Straßenblockaden hätte man sich leicht die möglichen Folgen eines solchen Vorgehens ausmalen können. Morales’ Wahlsieg hat nunmehr für klare, vorerst stabile Verhältnisse gesorgt.
Wegen des Namens seiner Partei und wegen der Nähe zu Hugo Chávez und Fidel Castro gilt Morales vielen als Marxist, doch marxistische Literatur hat er nie gelesen. Er fühlt sich aber sehr wohl als Teil einer „anti-imperialistischen“, einer „Anti-Globalisierungs“-Achse zur Verteidigung der nationalen Souveränität. Anti-kapitalistische Rhetorik gehört zu seinem Repertoire. Doch kollektivistisches und konsensdemokratisches Denken stammen bei ihm nicht aus einer sozialistischen, sondern aus einer uralten Tradition dörflicher Organisation in den Andenkulturen. Korrekturen am Modell muss und wird er vornehmen. Für eine grundsätzliche Abkehr von Kapitalismus und Neoliberalismus fehlt Morales aber der Handlungsspielraum.
Evo Morales hat die Gunst der Stunde genutzt und ist als strahlender Wahlsieger in die Welt hinaus gefahren, auf eine zweiwöchige Auslandsreise in vier Kontinente. Es hat sich gelohnt: Noch vor der Amtsübergabe konnte der designierte Präsident beachtliche Erfolge einfahren: Cuba hat medizinische Hilfe angeboten. Venezuela hilft mit 30 Millionen US-Dollar und will Benzin gegen bolivianische Lebensmittel liefern. Spanien hat einen Schuldenerlass von 120 Millionen Dollar angekündigt, Frankreich will 20 Millionen Euro Schulden erlassen. China hat Bolivien wichtige Investitionen in Aussicht gestellt. Die vorläufig beste Nachricht für das Andenland kommt aus Brasilien: Die halbstaatliche Petrobras, die 46% der bolivianischen Erdgasreserven kontrolliert und 75% der aktuellen Gasexporte abnimmt, hat sich bereit erklärt, die Verträge neu zu verhandeln, so wie es das neue bolivianische Energiegesetz fordert.
Die Vereinbarung mit Petrobras wird zweifellos Signalwirkung auch für andere ausländische Investoren im bolivianischen Energiesektor haben, etwa die spanische Repsol. Niedrigere Gewinne sind immer noch besser als das Geschäft an die Chinesen abzutreten, mag ein zugkräftiges Argument sein.
Ohne ausländische Hilfe weiß auch ein Presidente Evo nicht, womit er seine Staatsbediensteten bezahlen soll. Knapp die Hälfte dieser Hilfe kontrollieren die USA. Auch da wird man sich auf die eine oder andere Weise arrangieren müssen. Das Ergebnis eines Referendums aus dem Vorjahr ist umzusetzen, das die Nationalisierung der fossilen Rohstoffe verlangt – möglichst ohne hohe Schadensersatzforderungen nach sich zu ziehen. Die von Morales versprochene Freigabe des Kokaanbaus wird vernünftigerweise Obergrenzen definieren, um die internationale Gemeinschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Im Rahmen der für Juli angesetzten Verfassunggebenden Versammlung werden Strukturveränderungen zu diskutieren und der überfällige Dialog der Kulturen zu führen sein.
Der neue Präsident wird es trotz seines Wahltriumphes nicht leicht haben. Die Herausforderungen sind vielfältig und komplex. Aber er hat bessere Karten und mehr Möglichkeiten, als man vor den Wahlen je gedacht hätte. Seine Herkunft und das historische Wahlergebnis statten ihn mit einer Legitimität aus, wie sie noch keiner seiner demokratisch gewählten Vorgänger in Bolivien besaß.