Land der Extreme

Von Viktoria Perschler · · 2009/06

Haiti Chérie, Haiti meine Liebe – so lautet ein patriotisches Lied, das den Stolz der haitianischen Bevölkerung auf ihr Land und ihre Kultur ausdrückt. Doch viel Grund zu Stolz und Freude haben die Menschen auf der leidgeprüften Antilleninsel nicht.

Claudines Mann (Name von der Redaktion geändert) ist vor zehn Jahren gestorben. Sie erlebt die aktuelle politisch-ökonomische Situation in Haiti als allein erziehende Mutter von vier Kindern. Geboren ist Claudine 1973, während der Zeit der Duvalier-Diktatur: Ab 1957 regierte „Papa Doc“ und dann sein Sohn „Baby Doc“, der 1986 gestürzt wurde. Dies waren, so behauptet sie, die besten Zeiten, die sie gekannt hat.
Claudine steht mit ihrer Meinung nicht alleine da. Immer wieder hört man von den Einheimischen, dass es nur in der Zeit der Duvaliers in Haiti eine intakte Infrastruktur, Arbeitsmöglichkeiten, erschwingliche Nahrungsmittel und Sicherheit gab. Dass diese „Sicherheit“ mit einer hohen Rate schwerster Menschenrechtsverletzungen einherging, mit Massenhinrichtungen und Vergewaltigungen, Gefängnis und Folter für wirkliche und vermeintliche politische OpponentInnen, mit einem ausgeklügelten System von Geheimpolizei und Spitzeln, das scheint heute oft vergessen oder zumindest verdrängt zu werden. „Reden konnten wir nur im Auto bei geschlossenen Fenstern, um sicher zu sein, dass uns keiner abhörte“, erinnert sich die Mitarbeiterin einer haitianischen Nichtregierungsorganisation (NGO) an diese Zeit. „Aber sicher war es damals.“

Die Sicherheitslage ist eine der größten Sorgen der Bevölkerung. Die MINUSTAH, die „Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen“, ist mit 6.700 internationalen Soldaten, 1.600 Polizisten und ca. 1.700 Zivilisten allgegenwärtig. Doch eine langfristige Lösung ihrer Probleme erwarten sich dadurch nur wenige Menschen. „Es ist unsere Regierung und es sind wir selbst, die dafür verantwortlich sind, die Lage zu ändern, und nicht MINUSTAH“, meint Claudine.
Die UN-Blauhelme unter der Leitung Brasiliens sind nicht nur in den ärmsten Vierteln der Hauptstadt Port-au-Prince stationiert, darunter in Cité Soleil, mit geschätzten 2 – 300.000 BewohnerInnen einer der größten Slums der westlichen Hemisphäre, sondern in der ganzen Stadt und in anderen Teilen des Landes. Als es letztes Jahr in den ersten Monaten starke Preissteigerungen bei den Lebensmitteln gab, kam es im April zu gewalttätigen Ausschreitungen. Der Preis für Reis, eines von Haitis Grundnahrungsmitteln, stieg von 50 Gourdes (1,20 US-Dollar) im Jahr 1996 stetig an und erreichte im April des Vorjahres mit 250 Gourdes einen historischen Höchststand – für importierten US-Reis. Der haitianische Reis kostet absurderweise das Doppelte.
Aufstände und Unruhen können sich in Haiti jederzeit wiederholen, MINUSTAH soll helfen, solche Entwicklungen zu vermeiden.

Die Bevölkerung ist frustriert und will Fortschritte sehen. „Das größte Problem für uns Haitianer“, so Claudine, „ist die Nahrung. Wir haben nicht genug Geld, um uns zu ernähren.“ Tatsächlich sterben in diesem Land, das nur 90 Flugminuten von Miami entfernt ist, heute noch Kinder an Unterernährung. Darüber hinaus ist die Stromversorgung miserabel – Port-au-Prince ist nachts großteils finster. Nur wenige können sich Generatoren leisten. Das Wasser hat keine Trinkwasserqualität, das sanitäre System ist miserabel und Sozialleistungen sind entweder inexistent oder einfach zu teuer, wie zum Beispiel der Zugang zum Gesundheitssystem.

Bei den letzten Senatswahlen Mitte April lag die Wahlbeteiligung mit zehn Prozent extrem niedrig. „Nein“, meint Claudine, „ich war nicht wählen. Ich glaube nicht, dass diese Kandidaten meine Interessen vertreten werden.“ Einschüchterung vor der Wahl hat da keine Rolle gespielt. Die Partei des Ex-Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, „Lavalas“, wurde vom Nationalen Wahlkomitee von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen, weil sich die Partei nicht über die Kandidatenlisten einigen konnte. In der Folge rief die Partei zu einem Wahlboykott auf. Doch das kann nicht für die schwache Wahlbeteiligung verantwortlich gemacht werden. Inwieweit Aristide noch in der Innenpolitik mitmischt, ist genauso umstritten wie seine Persönlichkeit. Anfangs als große Hoffnung gesehen, hat der Befreiungstheologe nach Meinung vieler in seiner zweiten und dritten Amtsperiode den Sinn für die Realität verloren und sich selbst schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Seit seinem Sturz Anfang 2004 lebt Aristide in Südafrika, wo er Zulu studierte und kürzlich sein Doktorat in afrikanischen Sprachen abgeschlossen hat. Sein damaliger Premierminister René Preval ist heute Präsident des Landes.
Claudines Angst gilt vor allem der Sicherheit ihrer Kinder. Kidnapping stand in den letzten Jahren auf der Tagesordnung. Davon betroffen ist vor allem die Oberschicht: etwa fünf Prozent der HaitianerInnen, denen 80 % des Reichtums des Landes gehört. Zu dieser Schicht gehört Claudine nicht. Doch sie legt besonderen Wert darauf, dass ihre Kinder eine gute Schule besuchen und gut gekleidet sind. Daher fürchtet sie um deren Wohl und lässt sie kaum aus dem Haus. Trotz Bildung sind heute die Aussichten auf gute Jobs schlecht. Claudine ist stolz auf ihre Matura, hat aber danach immer nur schlecht bezahlte Arbeit bekommen.

Die Analphabetenrate liegt in Haiti bei 50%, das ist die höchste des ganzen Kontinents. Arbeitsplätze im formellen Sektor gibt es kaum, auch nicht für Universitätsabgänger. Es gibt keine verlässlichen Statistiken über Arbeitslosigkeit; 80% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Man arbeitet entweder im informellen Sektor oder in der Landwirtschaft. Selbst Staatsangestellte wie Regierungsbeamte und LehrerInnen erhalten ihre Gehälter über Monate hinweg nicht ausbezahlt.
Viele junge Menschen träumen davon, Haiti zu verlassen, um in Kanada oder den Vereinigten Staaten ein besseres Leben zu beginnen. An die drei Millionen HaitianerInnen leben bereits im Ausland, ein Teil davon auch in der benachbarten Dominikanischen Republik, wo sie vor allem auf den Zuckerrohrplantagen und auf Baustellen für einen geringen Lohn und oft illegal arbeiten.

Zurzeit ist Claudine in einem der besseren Hotels in Port-au-Prince beschäftigt und hat damit ein für Haiti überdurchschnittlich gutes Einkommen von ca. 400 Dollar monatlich. Die Hälfte ihres Gehalts gibt sie für Schulgeld aus. Ihre Kinder gehen alle in Privatschulen, die 85% der Schulen in Haiti ausmachen. Um einen Platz in einer öffentlichen Schule zu bekommen, die billiger sind, muss man jemanden kennen, der Einfluss hat.
Claudines Herzenswunsch ist es, dass zumindest eines ihrer Kinder es schafft, ins Ausland zu gehen, und dann Geld für den Rest der Familie schickt.

Trotz ihrer drei eigenen Kinder hat die Mutter noch ein viertes Kind adoptiert. Es war ein Straßenkind. Ein Diplomat hat es nachts mit starken Brandverletzungen hinter seinem Auto gefunden und in eine von „Ärzte ohne Grenzen“ geleitete Klinik gebracht, in der der Bub sechs Monate verbrachte, bevor er von Claudine in Pflege genommen wurde. Sie hat vergeblich versucht, die Eltern des damals Achtjährigen ausfindig zu machen. Der Diplomat gibt ihr derzeit jeden Monat Geld für das Kind.
In Port-au-Prince und den Provinzhauptstädten leben viele Straßenkinder, besonders seit den verheerenden Wirbelstürmen im letzten Jahr. Viele dieser Kinder laufen einfach von zu Hause weg, weil es kein Essen gibt, sie verdienen sich etwas Geld in den Straßen mit dem Putzen und „Bewachen“ von Autos und leben davon besser als bei ihren Familien. Die Armut ist so groß, dass Eltern ihre Kinder in so genannte „Waisenhäuser“ bringen, wo sie auf die Adoption vorbereitet werden. Haiti ist in den letzten Jahren beliebt für Adoptionen aus dem Ausland geworden, vor allem nachdem einige klassische Herkunftsländer wie Guatemala wegen Korruption, Kindesentführungen und Fällen von Kinderhandel internationale Adoptionen zumindest vorübergehend nicht mehr zulassen.

In den meisten guten Hotels der Hauptstadt kann man glückliche Möchte-gern-Eltern mit haitianischen Kindern spielen sehen. „Sie kommen öfters im Jahr“, berichtet Claudine von ihrem Hotel, „bis sie das Kind mitnehmen können.“ Haiti hat die Konvention von Den Haag, die internationale Adoptionen regelt, nicht ratifiziert.
KritikerInnen stellen fest, dass dem für Adoptionen zuständigen Verwaltungsapparat die Mittel fehlen, um adäquate Überprüfungen anzustellen. Auch Fragen der Ethik stellen sich angesichts der Tendenz, von den Industrieländern in Entwicklungsländer zu gehen, um sich Kinder zu „holen“, die noch Eltern haben, in der Überzeugung, dass die besseren materiellen Verhältnisse auch das Beste für das Kind bedeuten. Die leiblichen Eltern werden wegen ihrer schwachen wirtschaftlichen Position nicht mehr als „wichtig“ in Betracht gezogen, eine Annahme, die von einer Art Wohlstandsarroganz genährt wird und eine Ausbeutung der Armut darstellt.
Obwohl die Situation in Haiti für die Mehrheit der Bevölkerung alles andere als lebenswert ist, hat das Land auch seinen Charme. Haiti ist ein Land der Gegensätze, der Extreme, das nicht gleichgültig lässt, in dem die ausgeprägte Armut kontrastiert mit der großen Energie und Freundlichkeit der Bevölkerung, mit wunderschönen Landschaften und Palmenstränden und mit einer Farbenfreude in den Straßen, die die Schlaglöcher vergessen lässt.

Besonders lebendig ist Haitis Kulturszene, ein Reichtum, der sonst in der Karibik nicht leicht zu finden ist. Haitis Kultur hat von einer langen und ereignisreichen Geschichte profitiert und zeigt mitunter auch einen starken afrikanischen Einschlag – das trifft nicht nur auf Voodoo zu.
Schließlich hat das Land als erste Kolonie südlich des Rio Grande, des Grenzflusses zwischen Mexiko und den USA, vor mehr als 200 Jahren die Unabhängigkeit erreicht, erkämpft von Sklaven, die dafür die Armee Napoleons besiegten. Es war auch das erste Land der westlichen Hemisphäre, das die Sklaverei abgeschafft hat.

Das Jahr hindurch gibt es eine Vielzahl kultureller Ereignisse, beginnend mit den Vorbereitungen für den Karneval. Währen dieser Zeit treten die zahlreichen Compas-Bands (oder auch Konpa) in eine Art Wettbewerb um das beste Karnevalslied. Ihre Musik ist überall zu hören, und die Bands oder deren Anhänger und Anhängerinnen ziehen singend und tanzend durch die Straßen. Faszinierend ist der Karneval in Jacmel, einer kleinen Stadt mit viel Ambiente im Süden Haitis, der eine Woche vor dem großen Karneval in Port-au-Prince stattfindet. Den ganzen Sonntag ziehen Menschengruppen mit Papiermaché-Masken durch die Hauptstraße, ein schier endloser Umzug, der an Buntheit und Kreativität nicht zu übertreffen ist. Monatelang arbeiten die Familien an diesen Masken, die Tiere, Monster und Szenen aus der haitianischen Geschichte darstellen.
Nach den Karnevals geht die Musikszene direkt in den Rara über, ein traditioneller und sehr alter Brauch. Die Prozessionen führen vor allem durch Provinzorte und ländliche Gegenden, mit ihrem Höhepunkt in der Karwoche. Gesungen wird selbstverständlich in „Kreyòl“, der aus dem Französischen kommenden haitianischen Volkssprache.

Visuelle Kunst, Voodoo-Fahnen, mit kleinen Perlen und Pailetten bunt bestickte Stoffe, stellen vor allem Voodoo-Symbole und -Geister dar. Die haitianische Malerei hat eine lange Tradition; sie lehnt sich stark an die afrikanischen Wurzeln der Kultur an und wird weltweit geschätzt. Später dann gingen haitianische KünstlerInnen von der naiven Malerei ab und begannen, die harsche Alltagsrealität darzustellen. Eine der zeitgenössischen Schulen ist die der „Saint Soleil“, die mit wilden Bewegungen und Farben in ihre Bilder spontan Energie, oft in Form von Voodoo-Geistern, einbringen.

„Wir Haitianer sind alle als Künstler geboren“, sagt Claudine und lacht, „nur leider haben die meisten keine Zeit, dies zu praktizieren. Wir schöpfen viel Kraft aus der Kunst und aus der Hoffnung, dass sich unser Leben verbessern wird und Haiti wieder das Chérie wird, das es früher einmal war und das viele von uns immer noch so sehen wollen.“

Viktoria Perschler ist österreichische Juristin und arbeitet seit 1994 in verschiedenen Einsätzen im Ausland, 13 Jahre davon in Afrika. Bei internationalen Organisationen war sie v.a. im Bereich Menschenrechte und Kinderschutz tätig (u.a. Südafrika, Angola, Mali). Seit Oktober 2008 arbeitet sie als Konsulentin in Haiti.

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