In der nigerianischen Megacity Lagos leben rund zehn Millionen EinwohnerInnen, von denen jedeR täglich ein halbes Kilo Müll produziert. Eine Stadt versucht, dem riesigen Müllberg Herr zu werden.
Adeola David rückt sich ihren hellgrünen Mundschutz zurecht. Okadas, so heißen hier die Moped-Taxis, gelbe Minibusse und PKWs flitzen an der 31-Jährigen vorbei. Abgase hängen in der Luft. Aus dem kleinen Graben, der die Straße von einer Art Gehsteig trennt, steigt beißender Uringeruch hoch. Doch Adeola David fegt am Straßenrand unermüdlich Sand, leere Plastiksäckchen und Orangenschalen auf ein Kehrblech. Der Abfall wandert in einen großen Müllsack. Etwas später werden ihre KollegInnen kommen und ihn mit unzähligen weiteren in Lagos einsammeln. Die Frau in dem orangefarbenen Overall dreht sich um und schaut sich den Straßenabschnitt an, für den sie heute Morgen in dem lebhaften Wohnviertel Mushin zuständig ist. Sie nickt zufrieden: „Du siehst, wie sauber es geworden ist.“ Dann drückt Adeola David ihren Rücken durch, hält einen Moment inne und stützt sich auf ihren Besen. Es ist ein anstrengender Job.
Mehr als 5.000 Frauen und auch ein paar Männer schickt das staatliche Abfallunternehmen von Lagos, Lawma (Lagos Waste Management Authority), jeden Tag mit Besen, Müllbeuteln und Kehrblechen bewaffnet durch die Megacity. In einer Stadt, in der zwischen 16 und 18 Millionen Menschen leben und in die jeden Tag tausende neue MigrantInnen strömen, hört sich das allenfalls nach etwas Kosmetik an. Trotzdem sind viele EinwohnerInnen froh darüber. „Lagos ist sauberer geworden, aufgeräumter und grüner“, sagt der Autofahrer Michael Adeboye und nickt anerkennend einer der Straßenkehrerinnen zu, als eine rote Ampel ihn zum Anhalten zwingt.
Felix Morka, Leiter des Zentrums für soziale und wirtschaftliche Rechte (Serac), schnaubt fast verächtlich, wenn er das hört. „Um die Slums kümmert sich unsere Regierung nicht“, kritisiert er. 70 Prozent der EinwohnerInnen leben in den Armutsvierteln. „Wir haben Lawma zum Beispiel aufgefordert, Makoko vom Müll zu befreien.“ Makoko, das ist Lagos‘ riesiger Wasserslum, in dem bis zu 150.000 Menschen leben sollen. Abimbola Jijoho-Ogun, die stellvertretende Direktorin von Lawma, widerspricht: „Natürlich sind wir auch in Makoko. Dort haben wir aufgeräumt und Mülleimer aufgestellt.“ Lagos dürfe schließlich keinen Rückfall erleiden und wieder zu dem werden, was die Stadt noch vor zehn Jahren war: „Unsere Stadt galt als die dreckigste in ganz Nigeria. Heute erhalten wir Auszeichnungen für unsere Abfallentsorgung.“ Andere Städte aus Nigeria sowie den westafrikanischen Nachbarländern würden sich Anregungen holen.
All das ist für Jijoho-Ogun nur möglich, wenn echter politischer Wille dahinter steht. „Null Prozent Toleranz für Müll. Das hat sich unsere Regierung auf die Fahnen geschrieben.“ Treibende Kraft sei Babatunde Raji Fashola vom Action Congress of Nigeria (ACN), der im April 2011 als Gouverneur von Lagos wiedergewählt wurde. Unter ihm entstand eine Art Masterplan der Müllbeseitigung: die Stadt vom gröbsten Dreck befreien, Mülleimer aufstellen und diese regelmäßig leeren lassen, die Recyclingquote erhöhen, aber vor allem das Bewusstsein der Menschen ändern. Die Idee von der sauberen Stadt hat einen angenehmen Nebeneffekt. Sie schafft Arbeitsplätze.
Adeola David hat ihren Besen auf die Seite gelegt und trägt ein schweres Metallschild einige Meter die Straße entlang. Der nächste Abschnitt ist an der Reihe. Es ist die einzige Sicherheitsmaßnahme für die Frauen, mit der die AutofahrerInnen zum langsameren Fahren aufgefordert werden. Seit dem 27. Dezember 2010 kehrt Adeola David die Straßen. „Davor habe ich auf dem Markt gearbeitet und Reis und Öl verkauft.“ Bereut hat sie den Wechsel nicht. „Das ist kein dreckiger Job, wie viele denken“, sagt sie und fegt weiter.
Von der Straße ist der Abfall zwar zum Teil verschwunden. Doch wohin? Der Großteil landet auf der Müllhalde von Olusosun, die im Norden von Lagos liegt. Vor dem Eingang stehen die Müllfahrzeuge Schlange. Es riecht säuerlich. Trotzdem ist Olusosun zum Arbeitsplatz von vielen hundert Menschen geworden, die in den Müllbergen nach Verwertbarem suchen. Sie sind spezialisiert, beispielsweise auf alte Plastikstühle, Pappe oder Blech. Andere transportieren den gerade angefahrenen Müll wieder in Karren ab. Rechts und links der Straßen verkaufen Frauen Wasser, Zigaretten oder ein warmes Mittagessen.
Wenn es nach Lawma geht, soll Olusosun so schnell und so stark wie möglich schrumpfen. Bis März 2013 will das Müllunternehmen die Recyclingquote auf 50 Prozent erhöhen, im Moment sind es 20 Prozent. Ein erster Schritt ist die kleine Recyclingfabrik für Plastikmüll, die Olusosun Nylon Recycling Facility. Vor der Halle stapeln sich Plastikflaschen und Wasserbehälter. „Wir haben hier keine hochmoderne Anlage“, entschuldigt sich Jirinsola Olaleye, die für die technischen Abläufe zuständig ist. Zuerst wird der Plastikmüll, der meist von Firmen angeliefert wird, gewaschen, gehäckselt und in winzige Pellets gepresst. Im Herzstück der Anlage werden diese wieder in Müllsäcke verwandelt. „Diese Maschine funktioniert aber gerade nicht.“ Olaleye entschuldigt sich wieder und erklärt, dass die kleine Recycling-Anlage eher ein Versuchsprojekt sei. Um ähnliche Anlagen im großen Stil zu bauen, bräuchte Lawma Unterstützung aus der Wirtschaft.
Auf Lawma hat sich Aniche Phil-Ebosie, Betreiber von Midori Environment Solutions, nicht verlassen. Seine Mini-Biogasanlage gehört zwar heute zum Unternehmen, entstand aber nur, weil Phil-Ebosie seinen Traum von Müllreduzierung und Energiegewinnung für Afrika hatte. Während seines Studiums in Paris beschäftigte er sich mit Biogasanlagen. Eine Anlage aus Europa kommen zu lassen oder kleinere Modelle aus Asien einzuführen war unmöglich. „Ich habe Angebote eingeholt. Häufig lagen die Preise bei einer halben Million US-Dollar, dabei hatte ich nicht einmal Startkapital.“ Zufällig stieß er auf die Firma Afrikom Technology Transfer, die in Hirrlingen in Baden-Württemberg sitzt. Diese verkaufte ihm keine komplette Biogasanlage, aber eine Bauanleitung dafür, die im Nachhinein viel kostbarer als ein fertiges Produkt ist. 6.500 Euro zahlte Aniche Phil-Ebosie. Außerdem vermittelte das Unternehmen Besuche und Praktika in Biogasanlagen in Deutschland und Österreich.
Aniche Phil-Ebosie stellt den Generator an. Die Glühbirne leuchtet. „Als das Licht zum ersten Mal anging, habe ich mich wahrscheinlich wie eine Frau gefühlt, die gerade entbunden hat.“ Ähnlich lang wie eine Schwangerschaft hat auch der Bau der Biogasanlage gedauert. Mit der Gebrauchsanleitung in der Hand klapperte Phil-Ebosie Märkte und Werkstätten ab, ließ den großen Tank herstellen, kaufte Häcksler, experimentierte mit Abfällen herum und musste feststellen: „Wir produzieren zehn Kilowatt. Für kleine Farmer ist die Anlage zu teuer. Größeren Unternehmen reicht die Strommenge nicht.“
Zum Obst- und Gemüsemarkt von Ketu passt sie allerdings. Surajudeen bringt eine volle Schubkarre mit angefaulten Wassermelonen, die niemand mehr kaufen würde. Der junge Mann arbeitet noch nicht lange auf dem Markt von Ketu. „Als ich von dieser Anlage hörte, konnte ich es nicht glauben. Aus Müll soll Strom werden?“ Mittlerweile sorgt er dafür, dass jeden Tag 200 Kilogramm Bioabfälle angeliefert werden. Dafür erhalten die umliegenden MarkthändlerInnen Strom und müssen keinen teuren Diesel mehr für ihre Generatoren kaufen. Bei dem kleinen Modellprojekt will es Aniche Phil-Ebosie aber nicht belassen. Gerade entwickelt er Pläne, um viel größere Müllmengen zu beseitigen. „Müll haben wir in Lagos schließlich mehr als genug.“
Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien. Sie lebt in Lagos, Nigeria, und Cotonou, Benin.
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