Pakistans Taliban bekämpfen Impfungen gegen Polio. Den gezielten Angriffen fielen bereits dutzende Menschen zum Opfer.
Die Landkarte von Pakistan im Büro von Nima Saeed Abid spricht eine deutliche Sprache: Der Direktor des Büros der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Islamabad markiert darauf alle Polio-Neuinfektionen mit roten Nadeln. 2013 musste er schon 91-mal in die Karte stechen, im ersten Quartal 2014 bereits 36-mal. In keinem anderen Land der Welt gibt es so viele neue Fälle von Kinderlähmung.
Der Blick auf die Karte von Dr. Abid zeigt aber nicht nur, wie sich eine schreckliche – und durch Impfung vermeidbare – Krankheit bis heute immer wieder ausbreiten kann. Der Fall zeigt auch, welch dramatische Folgen internationale Konflikte, der wachsende Einfluss der pakistanischen Taliban und Verschwörungstheorien für das Leben der Menschen dieser Region haben. Die meisten roten Nadeln drängen sich an der Grenze zu Afghanistan, in Nordwasiristan und im Distrikt Khyber Agency nördlich davon. Beide gehören zur FATA genannten Stammesregion, einer Hochburg militanter Islamisten. Betroffen ist auch die Nachbarregion um die Stadt Peschawar.
Im Sommer 2012 hatten Pakistans Taliban PolioimpfhelferInnen mit Ermordung gedroht. Impfungen dienten dazu, die Bevölkerung auszuspionieren, erklärten die Islamisten. Der Westen benutze diese als Instrument, Muslime zu unterjochen. „In Nordwasiristan wird seit Juli 2012 nicht mehr gegen Polio geimpft“, sagt Abid. „Das ist zu gefährlich.“ Der Spionagevorwurf hat mit der Jagd auf den Chef des Terrornetzwerkes al-Qaida, Osama bin Laden, zu tun. Der war am 2. Mai 2011 in der Stadt Abbottabad von einem US-Kommando aufgespürt und getötet worden.
Laut einem offiziellen Untersuchungsbericht hatte der pakistanische Arzt Shakil Afridi dort zuvor für den US-Geheimdienst CIA ein Hepatitis-B-Impfprogramm vorgetäuscht. So wollte die CIA an Blutproben von Kindern gelangen, die in einem Gebäude mit verdächtigen BewohnerInnen lebten. Per DNA-Analyse sollte eine Verwandtschaft mit bin Laden und damit sein Aufenthaltsort festgestellt werden. Ob Afridi die USA wirklich auf Bin Ladens Spur brachte, ist unklar.
Im Mai 2012 verurteilte ihn ein pakistanisches Gericht wegen Hochverrats zu 33 Jahren Gefängnis. Im März 2014 wurde die Strafe auf 23 Jahre reduziert. Für Pakistans mächtiges Militär war bin Ladens Tötung durch US-Agenten in direkter Nähe zur Militärakademie eine Blamage. Dafür muss Afridi büßen. Doch seine Verurteilung hat mit dem Spionagevorwurf nichts zu tun. Afridi soll vielmehr einer verbotenen Islamistengruppe geholfen haben. Dies bestreiten sowohl Afridis Familie als auch die Gruppe selbst, die droht, den Arzt umzubringen.
Seit der Bekämpfung der nationalen Polio-Kampagne durch die Taliban muss das Impfpersonal, das landesweit 35 Millionen Kinder unter fünf Jahren immunisieren soll und von Haus zu Haus geht, von der Polizei geschützt werden. Bisher wurden 56 Personen im Zusammenhang mit Impfungen getötet. Am 1. März starben zehn Polizisten und ein Kind bei einem Anschlag mit versteckten Bomben auf Fahrzeuge der Impfkampagne in Khyber Agency.
„Die afghanischen Taliban haben mit Polioimpfungen kein Problem“, sagt Abid. Seine Karte mit den roten Nadeln zeigt auch das benachbarte Afghanistan – mit viel weniger Fällen. Die dort Erkrankten kamen aus Pakistan, sagt er. In Kriegsgebieten zu impfen sei normalerweise kein Problem: „Wir reden mit den Konfliktparteien, und dann gibt es eine Feuerpause zum Impfen.“ Doch in Pakistan würden Teams gezielt angegriffen. „Impfungen sind in Pakistan politisiert“, sagt Abid. „Die Polizei kann keinen absoluten Schutz bieten, denn Impfkampagnen können nicht bewaffnet durchgeführt werden. Die Bevölkerung muss sie aktiv wollen, nur so funktionieren sie.“ Die Zahl der Impfverweigerer liegt laut Abid unter einem Prozent, doch das Misstrauen sei groß.
Misstrauische PakistanerInnen fragten ihn, warum es nur Polioimpfungen gebe. Die Menschen bräuchten doch auch Wasser und Medikamente. „Wir sagen, Polio sei eben vermeidbar und auszuschalten. Wir erklären auch, dass die Impfungen keine westliche, sondern eine globale Initiative sind.“ Doch verstünden viele nicht, warum die USA Pakistan bei Impfungen unterstütze, das Land zugleich aber mit Drohnen beschieße.
Polio
Poliomyelitis, kurz Polio oder auch Kinderlähmung genannt, ist eine durch Viren verursachte Erkrankung, von der vor allem Kinder betroffen sind. Befallen werden Nervenzellen des Rückenmarks, die für die Steuerung der Muskeln zuständig sind. Das führt zu Lähmungen bis hin zum Tod. Ab den 1960er Jahren konnte durch breit angelegte Programme weltweit ein starker Rückgang erreicht werden. Die meisten Länder sind heute poliofrei. Nicht jedoch Pakistan, Nigeria und Afghanistan. S. H.
„Der Fall Afridi hat das Misstrauen stark vergrößert“, beklagt Abid. Dabei habe der Fall mit Polio nichts zu tun gehabt. Dennoch: „Das Verbot der Polioimpfungen erließen die Taliban erst nach dem Fall Afridi“, sagt Abid. „Und erst danach wurde gezielt Impfpersonal angegriffen.“
„Ohne Afridi hätten die Taliban die Polioimpfungen nicht verboten“, glaubt der Talibanexperte Mansur Khan Mahsud vom FATA-Forschungszentrum in Islamabad. „Sammelt nur ein Prozent der Impfhelfer Informationen für Geheimdienste, rechtfertigt das aus Talibansicht ein Verbot“, sagt Mahsud.
Die Sozialarbeiterin Tayyaba Gul bestätigt, dass die Probleme erst losgingen, als der Fall Afridi bekannt wurde. Gul führt im Auftrag des Rotary Clubs, eines international agierenden Wohltätigkeits-Netzwerks, Polioschutz-Kampagnen durch. Sie organisiert lokale Impfkomitees, in denen örtliche Mullahs, Großgrundbesitzer, LehrerInnen und lokales Gesundheitspersonal zusammenarbeiten.
„Wir sprechen zuerst nicht von Polioimpfung“, sagt Gul. „Das ist zu gefährlich, das Misstrauen zu groß. Wir reden zuerst nur von Impfungen und Hygiene.“ Manche glaubten, Impfungen würden Kinder später unfruchtbar machen. Oder ihnen würden westliche Werte eingeimpft. Guls Teams erfahre von Hebammen, wo Kinder geboren werden, und fragen die Eltern dann, ob sie geimpft sind.
Wie sie sieht auch der WHO-Arzt Abid in den islamischen Geistlichen den Schlüssel für den Erfolg: „Wir weisen die Mullahs darauf hin, dass auch Saudi-Arabien Kinder gegen Polio impft. Wer nach Mekka pilgern will, muss eine solche Impfung nachweisen.“
Der Autor ist Redakteur für die Region Asien-Pazifik bei der „tageszeitung“ (taz) in Berlin. Im Frühjahr 2014 recherchierte er in Pakistan.
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