Ob Migration, nationalstaatliche Konflikte, kulturelle Identität oder Verteilungsgerechtigkeit – viele der globalen politischen und sozialen Themen werden auch in Ausstellungsräumen, Museen und Galerien aufgegriffen. Anders als noch vor zehn Jahren jedoch nicht mehr nahezu ausschließlich aus europäisch-nordamerikanischer Perspektive – moderne Kunst ist internationaler geworden.
Ein abgedunkelter, halbrunder Raum, auf der schwarzen Wand fünf Filmprojektionen. Auf den Bildflächen scheinen Menschen zu schweben – eine Frau, ein Mann, ein Mann mit Kind. Sie müssen auf einer Glasplatte stehen, einer transparenten Fläche. Die betrachtende Person sieht den Grund nicht, auf dem sie stehen. Sie sieht ihre Fußsohlen, sieht sie von unten, als ob sie aus einem verglasten Raum nach oben in den Himmel schaute, und auf dem gläsernen Dach stehen Leute, sitzen, suchen mit den Füßen tastend nach Halt. Sie bewegen sich vorsichtig, schwanken – oder ist es die eigene Verunsicherung angesichts der ungewohnten Perspektive, die sie schwanken scheinen lässt? Über ihnen nur blauer Himmel und Wolken, als ob sie zwischen Erde und Himmel schweben würden. Auf einer Bildfläche ist nur leerer Himmel. Sie singen mehr neben- als miteinander dasselbe Lied.
Die Installation "Der Stufenpsalm" war Teil der Ausstellung "Overlapping Voices – Israeli and Palestinian Artists", die dieses Jahr im Museum Essl in Klosterneuburg gezeigt wurde. Die junge Künstlerin Jumana Manna hat dazu palästinensische Flüchtlinge, die in Norwegen leben, gebeten, den Stufenpsalm auf Arabisch zu singen. Zwei der insgesamt sieben Gefilmten hatten sich geweigert, auf einer Ausstellung gemeinsam mit israelischen KünstlerInnen mitzuwirken. Ihre bewusst gewählte Abwesenheit ist durch den Bildschirm mit dem leeren Himmel präsent.
Der Psalm beginnt mit den Worten: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan."
In ihrem Statement zur Installation gibt die Künstlerin zusätzliche Information. Wir erfahren, dass das Lied nach einer jahrhundertealten jüdischen Melodie gesungen wird, im 20. Jahrhundert eine stark zionistische Konnotation erhielt. Dass religiöse zionistische Gruppen den Psalm bis heute als ihre Version der israelischen Nationalhymne singen. In der christlichen Religion stünde er für eine Vision des Weltfriedens, in der jüdischen habe er auch als Gebet, das vor dem Abendessen am Sabbat gesprochen wird, große Bedeutung. Jüdische Kinder lernen ihn oft auf israelischen Sommerlagern, israelische Popmusiker haben ihn in verschiedenen Versionen herausgebracht.
Noch ehe sich die Installation für BetrachterInnen außerhalb des israelischen Kontextes, die das Lied nicht sofort zuordnen und die gesungenen Worte möglicherweise nicht sofort als arabisch erkennen, in ihrer Bedeutung erschließt, wirkt sie aufgrund des Eindrucks, den sie erzeugt, Menschen noch nie aus dieser Perspektive gesehen zu haben. Durch die Information, die die Künstlerin im Begleittext dazu gibt, tun sich weitere Schichten an Bedeutung auf. Fragen. Was löst es in den Singenden aus, dieses Lied mit seiner mit dem Zionismus verbundenen Symbolik zu singen? Verändert sich der Inhalt dadurch, dass er von PalästinenserInnen auf Arabisch gesungen wird? Oder, wie es Manna selbst formuliert: "Singen sie es gezwungenermaßen oder handelt es sich um die Transformation des traditionellen jüdischen Traumes in einen palästinensichen Traum nach 1948?" Und was löst es in der nicht-jüdischen, nicht-arabischen österreichischen Betrachterin aus, mit dem Wissen um die lange Geschichte der Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus Europa bis hin zum Holocaust als eine der Wurzeln des Zionismus? Diese Worte, in denen sich auch jüdische und christliche Religion und Geschichte verbinden?
Kunst ist ein Raum, in dem Vieles möglich ist. "Im Kunstfeld habe ich die Möglichkeit, sehr spielerisch mit Dingen umzugehen und dadurch Schwarz-Weiß-Schemen leichter zu öffnen als in anderen Feldern", meint Karin Schneider, eine der KuratorInnen von "Overlapping Voices". Und es ist ein Raum, der politisch genutzt werden kann. Auf viele der Themen, die auch entwicklungspolitisch von Bedeutung sind – Migration, Menschenrechte, Gender, kulturelle Identität, Globalisierung, Verteilungsgerechtigkeit, Krieg, Gewalt – stößt man auch und in den letzten Jahren verstärkt in Ausstellungen, Galerien und Museen. Sie werden dort häufig in einer Weise aufgegriffen, die zum Reflektieren einlädt und erlaubt, Dinge anders oder vielleicht überhaupt erstmals wahrzunehmen. Gerade, wenn die vorherrschende mediale Sicht darauf sehr eingeengt und das Thema ideologisch aufgeladen oder belastet ist.
Bis vor wenigen Jahren waren es jedoch nahezu ausschließlich Künstler und – wesentlich weniger – Künstlerinnen aus Europa und den USA und deren Perspektiven, mit denen man sich im Bereich moderner Kunst auseinandersetzte. Das hat sich im letzten Jahrzehnt stark verändert: Moderne Kunst ist internationaler geworden, der Süden nicht länger nur benachteiligter Lieferant von "Rohstoffen" – sprich Artefakten und Anregungen, mit denen sich die europäisch-amerikanische Kunstlandschaft bereichert. Die von Okwui Enwezor 2002 kuratierte "dezentralisierte" Documenta 11 hat eine Flut von Publikationen über Kunst und Globalisierung ausgelöst; in Asien, Afrika und Lateinamerika etablieren sich neue Biennalen, in Europa widmen sich mehr und mehr Ausstellungen zeitgenössischer Kunst aus dem Süden.
Der Trend lässt sich auch in Österreich nicht übersehen. Das Museum Essl, die Kunsthallen Wien und Krems, das Kunsthaus Graz, das Museum der Moderne Salzburg, das OK – Offene Kulturhaus Oberösterreich in Linz und andere mehr – sie alle zeigten in den letzten Jahren sowohl in Form von Länder- als auch Themenausstellungen oder Werkschauen Arbeiten zeitgenössische Kunst aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Pionierarbeit leistete schon Peter Weibel als Chefkurator der Neuen Galerie Graz mit der von ihm kuratierten Ausstellung "Inklusion : Exklusion – Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration" am steirischen herbst 1996 in Graz, die bereits viel von den Inhalten der Documenta 11 vorwegnahm. "Vor zwanzig Jahren war die Frage, wo können afrikanische Künstler ausstellen, schnell beantwortet: im Völkerkundemuseum. Das hat sich wirklich verändert", stellt Margit Niederhuber fest, Beraterin von Frauen- und Kulturprojekten und Kunstvermittlerin vor allem für afrikanische Kunst in Österreich.
Trotzdem gibt es Hürden. Da sind zum einen die Stereotype, mit denen außereuropäische Kunst in Europa behaftet wird, Erwartungshaltungen, die bedient werden wollen. So schreibt Sarah Miltenberger in einem Artikel über Chinas zeitgenössische Kunst über das Dilemma chinesischer KünstlerInnen im Ausland. Sie sehen sich oft gezwungen, ihre kulturellen Wurzeln ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen, da fernöstliche Bezüge bis heute "relativ sichere Eintrittskarten" in die internationale Kunstwelt seien. Drastischer formuliert es Margit Niederhuber in Bezug auf afrikanische Kunst, wenn Aussteller sich nicht auf deren modernen Ausdruck einlassen, sondern "die afrikanischen Schnitzer aus Oberammergau einladen und Kunsthandwerk für Touristen als zeitgenössische, exotische Position präsentieren". Andere Hürden und Ausschlussmechanismen erzeugt der Kunstmarkt, wo einzelne Künstler durch gezielte Ankäufe von Sammlern wie Marken gepusht und Preise unverhältnismäßig in die Höhe getrieben werden. Zu beobachten ist, dass die Preise für Kunst dem Wirtschaftswachstum von Ländern folgen. Die Summen, die für Gegenwartskunst chinesischer KünstlerInnen ausgegeben werden, schnellten binnen weniger Jahre rasant in die Höhe. Jetzt wird eine Ablöse des China-Booms durch indische Gegenwartskunst prognostiziert. KünstlerInnen anderer Nationalitäten, die nicht mit einem von der Welt bestaunten Wirtschaftswachstum identifiziert werden, bleiben erst recht wieder draußen. Markt und Ausstellungsbetrieb wirken zusammen, und auch letzterer erzeugt seinen eigenen Mainstream. Die vordergründige Tendenz zur Globalisierung moderner Kunst täuscht auch über die tatsächliche Beständigkeit euro-US-amerikanischer Dominanz hinweg. Die Wirtschaftszeitschrift Capital veröffentlicht seit 1970 jährlich Ranglisten der Top 100 KünstlerInnen, gemessen an ihrer Sichtbarkeit im internationalen Ausstellungsbetrieb. Der Anteil all derer, die nicht aus Nordamerika und Westeuropa stammen, hat sich laut Analyse von Ulf Wuggenig von 1970 bis 2001 lediglichvon acht auf zehn Prozent erhöht. Der Anteil von Frauen hingegen ist von vier Prozent 1970 immerhin auf etwas mehr als ein Viertel gestiegen.
Als einen bürokratischen Hürdenlauf im Kulturaustausch zwischen Süd und Nord schildert Franz Schmidjell vom Verein Kulturen in Bewegung die europäischen Visa- und Einwanderungsregime. "Wir hatten einen Künstler aus der Elfenbeinküste, der in Paris ausgestellt hat. Es war nicht möglich, sein Schengen-Visum zu verlängern", erzählt Schmidjell als ein Beispiel von vielen. Der Künstler musste erst zurück nach Westafrika, sich eine Woche lang anstellen, um ein neues Visa zu bekommen, und wieder teuer nach Europa eingeflogen werden. Auch Margit Niederhuber bestätigt aus ihrer Erfahrung, mit welch absurden Barrieren VeranstalterInnen in Europa konfrontiert werden, die KünstlerInnen aus Afrika einladen. "In einem Fall in Linz ging es soweit, dass ein Künstler ausgetauscht werden musste, weil es unmöglich war, für ihn ein Visum zu bekommen. Das greift in die inhaltliche, künstlerische Position ein", berichtet Niederhuber. Als eine Reaktion darauf haben VeranstalterInnen und Kulturorganisationen die Initiative "abgesagt!" gegründet, um damit auf die Verhinderung internationaler künstlerischer und kultureller Arbeit in Österreich durch die Einreisebestimmungen aufmerksam zu machen.
Hartwig Knack und Sabine Güldenfusz betreuen in Krems das vom Land Niederösterreich finanzierte Austauschprogramm "AIR – Artist in residence", das pro Jahr bis zu 50 KünstlerInnen aus den Bereichen Bildende Kunst, Literatur, Architektur und Musik aus aller Welt zu dreimonatigen Stipendienaufenthalten einlädt. Sie erleben auch die umgekehrte Schwierigkeit, KünstlerInnen aus einem Land heraus zu bekommen. Die Auswahl von Stipendiaten aus China wurde, wie sie berichten, im Vorjahr von den dortigen Behörden von vornherein auf KünstlerInnen eingeschränkt, bei denen aufgrund familiärer oder anderer Bindungen keine Gefahr besteht, dass sie nicht mehr zurück kommen.
Wie ist es nun mit dem zuvor angesprochenen Politischen in der Kunst? Wird Kunst politischer, weil sie internationaler wird? Und ist Kunst überhaupt der richtige Raum für politische Themen oder gar Aktion? Was bedeutet es, wenn wir mit politischen oder sozialen Fragen in einem Ausstellungsraum konfrontiert werden, in dem sie nicht zu lösen sind? Darauf gibt es so viele Antworten und Zugänge wie Personen, die sich damit beschäftigen, eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen herzustellen oder zu denken. Margit Niederhuber etwa warnt davor, KünstlerInnen aus Afrika von vornherein auf politische oder soziale Themen festzulegen. Nur weil sie aus Ländern kommen, die in Europa vorwiegend mit Armut, Korruption, Krieg und Migration verknüpft werden, bedeutet es nicht, dass sie sich in ihrer Kunst damit beschäftigen müssen. "Sonst ist es wieder so, dass Künstlerinnen und Künstler aus Afrika oder anderen ärmeren Gegenden dieser Welt mehr oder weniger gezwungen werden, eine bestimmte Art von Kunst zu produzieren, während kein Mensch Künstler und Künstlerinnen aus Europa in irgendein Korsett zwingt." Genauso wenig muss eine israelische Künstlerin sich mit der Regierungspolitik ihres Landes gegenüber Palästina auseinander setzten. Zoya Cherkassky aus Tel Aviv, mit zwei Skulpturen bei der Ausstellung Overlapping Voices vertreten, geht soweit zu sagen, dass sie das auch nicht soll. Sie lieferte für die Ausstellung, deren Intention es in Worten der österreichischen KuratorInnen Karin Schneider und Friedemann Derschmidt war, "ein komplexeres Bild dessen zu vermitteln, was hier schlicht als ‚Nahostkonflikt' wahrgenommen und darunter subsumiert wird", eine Skulptur, die sich genau dem widersetzt. Ein rotes Objekt, das in der Form an die Landkarte Israels erinnert, zwei grüne für die besetzten palästinensischen Gebiete. In ihrem Statement dazu erklärt sie, dass der Konflikt politischer Natur sei und nach einer Analyse in politischer Sprache verlange: "Daher können Probleme, die mit dem Konflikt in Zusammenhang stehen, nicht in ästhetischer Sprache erörtert werden."
Kunst liefert keine Lösungen. Im besten Fall kann sie aber, gerade weil sie nicht unmittelbar auf politische Lösungen abzielt, Prozesse in Gang bringen. Was visuelle Kunst vermag und was nicht, hängt allerdings nie allein vom Künstler und der Künstlerin ab. Wohl aber damit, wer und wie viele bereit sind, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, einen Impuls aufzunehmen und ihn in anderen Handlungsfeldern weiterwirken zu lassen.
Buchtipps
Blickwechsel. Lateinamerika in der zeitgenössischen Kunst. Hg. v. VIDC (Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit) / Kulturen in Bewegung. transcript Verlag 2007
Cultrans. Ansichts-Sachen der Kunst. Hg. von Anton Engelbert u.a. Verlag Königshausen und Neumann 2005
Thomas Fillitz: Zeitgenössische Kunst aus Afrika. 14 Gegenwartskünstler aus Côte d'Ivoire und Bénin. Böhlau 2002
Birgit Haehnel: Regelwerk und Umgestaltung. Nomadistische Denkweisen in der Kunstwahrnehmung nach 1945. Dietrich Reimer Verlag 2007
Kunstwelten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart. Ausstellungskatalog Global Art Rheinland 2000 und Museum Ludwig Köln, Köln 1999
Edward W. Said. Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Fischer 1994
Transversal. Kunst und Globalisierungskritik. Hg. v. Gerald Raunig. Verlag turia + kant, 2003
Claus Volkenandt: Kunstgeschichte und Weltgegenwartskunst. Konzepte, Methoden, Perspektiven. Dietrich Reimer Verlag 2004.
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