Kulturelle Freiheit braucht nicht nur Toleranz, sie braucht vor allem kritische Auseinandersetzung.
Seit Jahren ist die multikulturelle Gesellschaft in vieler Leute Mund – Schreckensvision für die einen, Utopie für die anderen, schlichte Realität mit noch unausgeschöpften Potenzialen für das Weltentwicklungsprogramm UNDP. Sein kürzlich erschienener Bericht über die menschliche Entwicklung 2004 widmet sich unter dem Titel „Kulturelle Freiheit in unserer Welt der Vielfalt“ der Verwirklichung kultureller Rechte. Wichtigster Gedanke: Kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung des Gemeinwesens, ihre bewusste Förderung unterstützt – entgegen weit verbreiteter Mythen – nationalstaatliche Integration. Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihre Kultur uneingeschränkt zum Ausdruck zu bringen.
Das klingt einfacher, als es ist. Was bringen wir mit unserer Kultur zum Ausdruck? Und wie halten wir es mit unserer nationalen Kultur?
Ich denke hier gern an Christa Wolfs „Kassandra“, wenn sie im gleichnamigen Buch sagt: „Nicht durch Geburt, ach was, durch die Erzählungen in den Innenhöfen bin ich Troerin geworden.“ Kulturelle Identität versteht sich nie von selbst, sie entsteht nicht aus einem den Geist beruhigenden Einverständnis mit sich und der umgebenden Kultur. Im Gegenteil: Troerin – oder Österreicherin, Senegalese, Mexikanerin – zu sein, verlangt Wachsamkeit und Aufbegehren gegenüber den stillschweigenden Übereinkünften und den eigenen Sitten. Insbesondere dann, wenn sie Machtbeziehungen – zwischen Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Reichen und Armen, zwischen politischen und religiösen Autoritäten und der Gemeinschaft und nicht zuletzt zwischen den „Eigenen“ und den „Anderen“ – einfrieren und die „eigene“ Kultur zum Gefängnis machen.
Das gilt auch für den Umgang mit der anderen Kultur. Gerade Menschen, denen die eigene Kultur nicht passt, die sie als eng und unbefriedigend erleben, suchen häufig Glück und Anregung in einer anderen Kultur. Auch ein Weg, Vielfalt zu leben. Der Weg endet jedoch in einer Sackgasse, wenn die andere Kultur im Wunschbild der eigenen Projektion erstarrt. In dieser Projektion dürfen die anderen nicht sein und nicht entdecken, wer sie sind – mit all ihren Widersprüchen, Konflikten und ihrer Sehnsucht, die Engen der eigenen Kultur zu überwinden. Sie sollen einfach „anders“ sein und sich dabei möglichst nicht verändern.
Tatsächlich ist kulturelle Freiheit in unserer Welt der Vielfalt keine Frage der Toleranz gegenüber „anderen Kulturen“. Mir sind Leute suspekt, die Kulturen „mögen“ – ob es sich dabei nun um die eigene oder um andere handelt. Kultur ist nicht unbedingt das, was schön ist: Sie ist auch das, was verstört und schmerzt. Die beste Art, Respekt vor anderen Kulturen zu zeigen, ist, sich mit ihnen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit auseinander zu setzen – und dabei die Widersprüchlichkeit und Vielfalt in sich selbst und der eigenen Gemeinschaft nicht zu unterdrücken, sondern zu entwickeln und zu leben. Nein, kulturelle Freiheit ist kein Spaß.