Stellen Sie sich InnenstadtbewohnerInnen und VertreterInnen der städtischen Mittelschicht vor, die sich in einem der problematischsten Stadtteile Johannesburgs friedlich unter Junkies, Diebe und Straßenkinder mischen. Gemeinsam sitzen alle auf Heuballen und schauen Filme auf einer großen Leinwand im Freien an. Oder sie folgen einer modernen Tanzvorstellung oder einem HipHop-Konzert auf einer improvisierten Bühne aus Bierkisten. Oder noch besser, sie werden ZeugInnen einer Vorführung der durch den gleichnamigen Film aus dem Jahr 2005 international bekannten Swenkas: einer Gruppe von Zulu-Arbeitern, die sich feierabends einem regelrechten Wettbewerb des besten Stylings verschreiben und breit lächelnd ihre Anzüge, Socken und Armbanduhren vor einem Preisgericht enthüllen.
Fügen Sie dem eine Reihe künstlerischer Interventionen hinzu, von einer aus Holz gezimmerten 21.Jahrhundert-Imbiss-Slum-Hütte, über eine Schießbahn-Schwimmbad-Lounge bis zu einem Hundertfünfzig-Mann-Chor, der von drei verschiedenen Orten aus auf chaotische Weise ein altes African National Congress (ANC)-Kampflied anstimmt. Mischen Sie alle diese Eindrücke, und Sie haben eine Vorstellung von den Dimensionen des künstlerischen Zirkus, den das Kunstprojekt Cascoland in Johannesburgs Joubert Park Wirklichkeit werden ließ.
Alle Veranstaltungen des von der Holländerin Fiona de Bell organisierten Projektes hatten freien Eintritt. Es gab keine Sicherheitskontrollen, und alles lief in sehr persönlicher Atmosphäre ab. Wie de Bell sagt: „Es gibt keinen VIP-Raum für wohlhabende Besucher. An so etwas glauben wir nicht.“ Und das alles in einem Stadtteil, den viele, schwarz wie weiß, nur ungern besuchen, aus Angst vor Taschendieben oder Schlimmerem. Das Ziel de Bells und ihrer MitstreiterInnen – einer internationalen Gruppe von KünstlerInnen, DesignerInnen und ArchitektInnen – war es, während des zweimonatigen Projektes im Herzen der Innenstadt dieses negative Bild durch künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum zu verändern.
In Joubert Park trifft sich buchstäblich ganz Afrika. Mit dem Ende der Apartheid 1994 und der darauf folgenden hektischen Phase der politischen Veränderungen sind Südafrikas Grenzen poröser geworden. Eine Chance für Glücksuchende vom ganzen Kontinent, in das vermeintliche Schlaraffenland im Süden zu gelangen. Zwölf Jahre später manifestiert sich dieser Zustrom von MigrantInnen in einem Straßenbild, das typische äthiopische, mosambikanische, simbabwische oder nigerianische Merkmale trägt. In Joubert Park ist man ständig umgeben von einer wilden Kakofonie und einer eigenartigen Verknüpfung US-amerikanischer Großstadtstruktur mit einem Straßenbild, das an ein traditionelles afrikanisches Dorf erinnert. In diesem Umfeld leben sie, die VertreterInnen der afrikanischen Vielfalt, mit oder ohne Personaldokumente, und versuchen, ihre Produkte und Fähigkeiten an den Mann zu bringen. Auf der Suche nach dem bisschen Geld, das ihnen ein Überleben im Dschungel der Großstadt ermöglicht.
Aus der Sicht der „besseren“ BürgerInnen Johannesburgs – ob schwarz oder weiß – ist die Innenstadt noch immer eine „No-Go-Area“. Das ist zum Teil Paranoia. Andererseits gibt es aber auch gute Gründe, das Stadtzentrum zu meiden: Drogenkriege von Banden, PassantInnen, die, was nach wie vor häufig vorkommt, überfallen oder schikaniert werden. Die Stadt ist übersät mit überfüllten Wohnungen in herunter gekommenen Hochhäusern, in denen Auseinandersetzungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft, oft verstärkt von ausländerfeindlichen Ressentiments, mit Gewalt geführt werden. Doch trotz allem: Die Zeiten, in denen sich die Stadtverwaltung für nicht zuständig erklärte, die Innenstadt vor einem Abdriften in ein großes Slum zu bewahren, sind eindeutig vorbei.
Es war das Joubert Park-Projekt, ein seit dem Jahr 2000 aktives südafrikanisches Künstlerkollektiv, das Cascoland einlud, sein Lager auf dem Drill Hall aufzuschlagen, einem historischen öffentlichen Platz im Herzen der Innenstadt. Früher wurden in dem Gebäude, das dem Platz den Namen gab, Soldaten „gedrillt“, in den 1950er Jahren fanden darin Prozesse gegen Apartheid-GegnerInnen statt. Die Cascoland-Methode besteht darin, internationale KünstlerInnen für zwei Monate in eine sozial brisante Umgebung zu bringen. Dort haben sie zunächst Zeit, sich in die konkrete Situation einzuleben. In einer Forschungsphase versuchen sie, den Menschen des Stadtteils zu begegnen, greifen dann mit ihnen gemeinsam künstlerisch ein und veranstalten zum Abschluss ein großes Festival, an dem alle teilnehmen können. All dies geschieht mit dem großen Ziel, Menschen zu mobilisieren und herauszufordern, eigenständige und kreative Lösungen für ihre Probleme hervor zu bringen.
Eine Aktion wurde in diesem Jahr in besonderem Maß symbolisch für die Dynamik, die Cascoland entfachen kann. Am Tag der Ankunft auf dem Drill Hall fanden die KünstlerInnen den Platz umgeben von einer Betonmauer und einem Eisenzaun. In einer spontanen gemeinschaftlichen Aktion wurde die Mauer abgerissen – ohne eine Erlaubnis der lokalen Behörden zu erfragen. Die Argumentation war einfach. Erstens sei die Bürokratie nicht in der Lage, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Zweitens würde der symbolische Wert dieses Eingriffes immens sein, weil so den AnwohnerInnen deutlich gemacht werden könnte, dass Cascoland nicht die städtischen Autoritäten vertritt.
Viele der in Johannesburg lebenden MigrantInnen sind im Dauerzustand der Illegalität gefangen. In ihrer Unterkunft leben sie illegal, wenn sie Straßenhandel betreiben, dann oft ohne offizielle Genehmigung. Was immer sie unternehmen, sie bewegen sich außerhalb des Gesetzes. Konflikte mit der Polizei und den Behörden sind daher alltäglich und unvermeidbar. Der israelische Künstler Yair Straschnow und sein holländischer Kollege Bert Kramer bearbeiteten dieses Spannungsfeld von Legalitat und Illegalitat. Sie beobachteten eine Gruppe von Automechanikern aus Mosambik, die am Rand des Drill Hall illegal arbeiteten und dabei nicht einmal eine Sitzgelegenheit hatten. Um Bänke am Gehsteig aufzustellen, braucht es eine behördliche Genehmigung. Die Künstler waren aber nur berechtigt, am Gelände des Gebäudes zu intervenieren. So „flochten“ sie Bänke in den Zaun, die man von einer Seite des Zauns zur anderen schwingen kann. Wenn die Polizei vorbeikommt, können die Mechaniker ihre Bank schnell auf die Seite des Drill Hall schieben.
Ein anderer provokativer Eingriff sind die poetischen Zebrastreifen von Maya Marx. Die südafrikanische Künstlerin wagte sich dafür nachts auf die gefährlichen Seitenstraßen rund um den Drill Hall. Überquert man die Straße auf diesen Zebrastreifen, sieht man die poetischen Sätze kaum: „Divides are bridgeable after all“ – „Klüfte lassen sich doch überbrücken“ – oder „Something is always approaching“ – „Irgendwas kommt immer auf dich zu“. Aus etwas größerer Entfernung sind sie aber deutlich zu erkennen. Auch diese Aktion war nicht mit den Behörden abgestimmt und sorgte für hitzige Debatten unter Minibustaxifahrern und PassantInnen.
Ein weiteres Projekt, das den Geist von Cascoland treffend beschreibt, sind die Kinderschaukeln des deutschen „Müll-Architekten“ Jan Korbes. Kaum am Drill Hall angekommen, war ihm klar, wie wertvoll dieser Platz in einer Umgebung sein könnte, in der Kinder sonst auf den viel befahrenen Straßen spielen müssen. So begann er, fünfzehn Schaukeln aus alten Autoreifen herzustellen.
Mit der Installation der Schaukeln veränderte sich das Straßenbild des zuvor gemiedenen Platzes schlagartig. Bis zu sechzig Kinder vergnügten sich von nun an täglich auf diesem neuen Spielplatz. Und mit den Kindern kamen die Eltern. „Durch die Schaukeln habe ich diese problematische Zone transformiert“, stellt Korbes fest.
Selbst am Leben vor Ort teilzunehmen, spielerisch zu provozieren und vor allem die Menschen in der direkten Umgebung zu mobilisieren – das sind die wesentlichen Elemente des Cascoland-Konzepts. Doch wie sozial engagiert das Projekt auch wirken mag, seine Aufgabe liegt nicht darin, einen urbanen Ort strukturell zu verändern, im Stile etwa einer Nichtregierungsorganisation. Das künstlerische Eingreifen „gleicht eher einem Weckruf“, erklärt Fiona de Bell. „Dieses Kunstprojekt versucht, den Status Quo zu durchbrechen und Menschen durch Kunst dazu anzuregen, anders über ihre Umgebung zu denken.“ Die Interventionen regten Leute vor Ort dazu an, über eine mögliche Lösung von Problemen zu diskutieren. Da dies jedoch durch spielerische und künstlerische Aktionen geschah, ließen sich die drängenden innerstädtischen Probleme plötzlich aus einem positiven Winkel betrachten. Die Idee, einen Zeltplatz auf dem Dach des Drill Hall-Gebäudes einzurichten, war nur eine von vielen, kreativ Bewusstsein für die urbane Situation zu wecken. Hier zu übernachten, war eine abenteuerliche und lehrreiche Erfahrung für viele. Dass ganz ohne Werbung viele „Reservierungen“ per E-Mail aus der ganzen Welt eintrafen, verstärkte das Gefühl der Künstlergruppe, auf dem richtigen Weg zu sein.
Trotz anfänglicher Skepsis gegenüber den vielen weißen KünstlerInnen und BesucherInnen spielte die Truppe der draufgängerischen „Gung-ho mavericks“, wie die südafrikanische Sunday Times die Künstlergruppe nannte, ihre Rolle mit einem großen Lächeln und aufrichtigem Verständnis. Das war überall zu spüren. Wie es eine Teilnehmerin aus dem Viertel ausdrückte: „Wenn Cascoland längst verschwunden ist, werden wir uns noch immer im Geist der Gemeinsamkeit an dieses Projekt erinnern.“