„Das Modell funktioniert selbst für uns nicht mehr“, erklärte Fidel Castro im September gegenüber der US-Zeitschrift The Atlantic. Gesucht wird nicht mehr und nicht weniger als ein neues, umfassendes Wirtschaftskonzept. Ein Lokalaugenschein von der Antilleninsel von Robert Lessmann.
Kuba liegt auf Platz 51 des UN-Index für menschliche Entwicklung, hinter Chile, Argentinien und Uruguay – und vor allen anderen Ländern Lateinamerikas. Doch das Modell hat seine Strahlkraft eingebüßt, gerade im Inneren. Seit Jahren kontrastiert eine bemerkenswerte Überlebensfähigkeit mit der Unfähigkeit zu Reformen.
Wer über die Insel fährt, der sieht in den Industrieanlagen viel Rost und wenig bis keine Aktivität. Niedrige Arbeitsproduktivität (sprich: verdeckte Arbeitslosigkeit), fehlende Investitionen, Mangel an Ersatzteilen sind als Probleme identifiziert. Die Selbstbedienung in den Betrieben führt zu einer wahren Deindustrialisierung. Gedacht ist nun unter anderem an massive Entlassungen. Die Rede ist von 500.000 Staatsbediensteten. Daneben stehen Ausgabenreduzierungen, leistungsbezogene Löhne und möglicherweise sogar eine Währungsreform zur Debatte. Beschlossen soll das auf dem VI. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas im April werden; angekündigt wurden die Maßnahmen von Staatschef Raúl Castro bereits im November – fast 15 Jahre nach dem Abbruch des Reformprozesses von Anfang der 1990er Jahre auf dem 5. Plenum des Politbüros im März 1996: Der letzte Parteitag hatte vor 14 Jahren stattgefunden.
Die damaligen Reformen waren eine Reaktion auf die dramatische Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gewesen, durch den die Zuckerinsel nahezu 80 Prozent ihres Außenhandel verloren hatte. Zwischen 1989 und 1993 ging das Bruttoinlandsprodukt um 35%, die Agrarproduktion gar um 52% zurück. Innerhalb von vier Jahren waren die Importe auf ganze 21% des früheren Volumens gefallen, der durchschnittliche Kalorienkonsum pro Kopf auf dramatische 1.780 pro Tag geschrumpft (in den Industrieländern liegt er bei 3.500). Weitreichende Maßnahmen, etwa die Legalisierung des Devisenbesitzes im Juli 1993, wurden damals ad hoc beschlossen, als klar wurde, dass Kuba in diesem Jahr auch das Notwendigste an Importen nicht finanzieren können wird.
Ähnlich auch heute: Im Jahr 2009 gingen Kubas Exporte um 38% zurück. 2008 lagen sie noch bei 2,4 Milliarden US-Dollar – schon das ist nicht viel. Ursachen waren ein Verfall der Nickelpreise und Rückgänge beim Tourismus infolge der Weltfinanzkrise. Von internationalen Krediten ist Kuba weitgehend abgeschnitten und die anhaltende aggressive Wirtschaftsblockade durch die USA dürfte die Insel jährlich rund 500 Millionen Dollar kosten.
Weitere Reformen waren seinerzeit: die Zulassung ausländischer Investitionen als Joint Ventures in ausgewählten Schlüsselbereichen wie dem Tourismus, von selbständigen Kleinbetrieben („auf eigene Rechnung“), von freien Bauernmärkten (sie waren im Zuge der so genannten „Berichtigung“ im Jahr 1986 abgeschafft worden) sowie die Organisation der Landwirtschaft in Kooperativen im September 1993. Großteils unbeliebte und wenig durchdachte Privatisierungsansätze. Die privaten Restaurants wurden kurz nach ihrer Einführung auf zwölf Stühle begrenzt, um die „Herausbildung einer neuen Bourgeoisie“ zu verhindern, wie es hieß. Gleichzeitig erfolgte aber durch die Dollarfreigabe eine tiefe Spaltung der Gesellschaft in Devisen besitzende und devisenlose Menschen.
Die Hälfte der neu geschaffenen Kleinstunternehmen sperrten bereits im ersten Jahr wieder zu. 70% der landwirtschaftlichen Nutzfläche befinden sich heute in der Hand von Kooperativen. Doch die müssen 85% ihrer Ernte zu Fixpreisen an den Staat abgeben. Sie klagen über Benachteiligungen bei der Zuteilung von Dünger, Werkzeugen und Treibstoffen sowie über niedrige Löhne als Inspiration zur innerbetrieblichen Selbstbedienung. Generell leidet die Landwirtschaft an einer ineffizienten und ausufernden Bürokratie. Neben einem Landwirtschaftsministerium gibt es auch eines für Zucker und eines für Nahrungsmittel.
Trotzdem erholte sich die Agrarproduktion und stieg von 1993 bis 2000 um 35%. Ein Rundgang zeigt: Die Angebote auf den staatlichen und den freien Bauernmärkten haben sich inzwischen angeglichen, und auch die Preisunterschiede sind nicht mehr so hoch wie bei deren Wiedereinführung. Die Versorgungslage der Bevölkerung hat sich spürbar verbessert. Gut ist sie immer noch nicht. Dass nun auch über ein Ende der Lebensmittelkarte, der berühmten „Libreta“, gesprochen wird, ängstigt vor allem jene Menschen, die über keine Verbindungen zum Devisensektor der Wirtschaft oder kein familiäres Auffangnetz verfügen. Ein guter Verdienst liegt bei 300 Pesos, etwa 15 Euro. Eine Tasse kostet 20 Pesos, ein Blechbecher mit Deckel 30. Im Laden, wo man mit der bereits 1962 eingeführten Libreta subventionierte Lebensmittel einkaufen kann (sofern sie verfügbar sind), kosten ein Kilo Reis, ein Kilo Zucker oder ein Ei je 0,90 Pesos.
Die Parteizeitung Granma führte das ganze Jahr 2010 über eine relativ offene Wirtschaftsdebatte: „Die Privatisierung findet täglich statt, aber auf illegale und perverse Weise“, klagte ein Leserbriefschreiber: „Welche Vorteile hat die Gesellschaft von staatlichen Betrieben, wo der Staat die Rechnungen zahlt, aber betrügerische und illegale Profite in private Taschen fließen?“ Es geht erneut um die Einführung von Marktmechanismen als Instrument zur Rettung des „Sozialismus“ – nicht um dessen Abschaffung. Eine – folgenlose –Wirtschaftsdebatte in den Betrieben gab es allerdings auch schon Anfang 1994.
Die Leute, sagt Mirta, eine allein erziehende Mutter Anfang 40, würden heute immer offener Kritik üben. Sie selbst klagt über hohe Preise, die niedrigen Löhne und die allgemeine Stagnation. Auf die Frage nach einer möglichen Nachfolge in der Staatsführung sagt sie unverblümt: „Von dieser Bande wollen wir keinen mehr. Die denken doch alle gleich.“
Raúl Castro wird im Juni 80 Jahre alt; Fidel im August 85. Während die Debatte der 1990er Jahre vom Aufstieg von Jungpolitikern wie Roberto Robaina und Carlos Lage begleitet wurde, denen man zutraute, in die übergroßen Fußstapfen Fidels zu wachsen, gibt es heute weder eine Nachfolgediskussion geschweige denn Namen und Gesichter dazu. Robaina und zuletzt Lage wurden ebenso abserviert wie Felix Pérez Roque und Fidels Privatsekretär Carlos („Carlitos“) Valenciaga. Glaubt man der Gerüchteküche, so ist nicht nur regimeschädigendes Verhalten der Grund dafür gewesen, sondern auch Korruption.
Auf jeden Fall hat die Generalisierung des Illegalen, wie sie durch die Einführung halbherziger Reformen heraufbeschworen und gefördert wurde, ungeahnte Dimensionen erreicht. Längst gehört sie zum Alltag: „Man geht zur Arbeit und tut fast nichts. Dafür bekommt man Geld, für das man fast nichts kaufen kann“, sagen die Menschen seit zwanzig Jahren und verbringen ihre Zeit damit, sich durchzuschlagen. Ein großer Teil der Einkommen stammt nicht aus produktiver Arbeit, sondern aus Familienüberweisungen, Trinkgeldern und mehr oder weniger legalen Dienstleistungen von der Tischmusik über private Taxifahrten bis zur Prostitution. Gepäcksmanipulationen auf den Flughäfen sind an der Tagesordnung. Prostitution in den Hotels ist beinahe ebenso flächendeckend wie Betrügereien und Schlendrian in den Restaurants.
Am Tag des Straßenfests Sabado de Camagüey sitzen zwei junge Frauen mit Supermini und Highheels an der Bar. Der Sicherheitschef des Hotels höchst selbst wirbt für ihre Dienste. Sie sind beide 18 Jahre alt, die eine Studentin, die andere Kellnerin in einem Restaurant. Für die Highheels und andere Accessoires ihres Nebenerwerbs gebe es einen Schwarzmarkt, entgegnen sie auf meine Frage. Seit vielen Jahren kursiert das Gerücht, dass diese Utensilien im großen Stil ins Land gebracht werden. Ich spendiere den beiden eine Piña Colada, um sie gesprächig zu halten. Als ich ihnen mit den Worten des Che zuproste: „hasta la victoria, siempre“, sehen sie mich mit einem erschrockenen Blick an, als sei ein Dinosaurier aus dem Ei geschlüpft, und fallen dann vor Lachen fast vom Barhocker. Die Parolen von gestern sind für die Jugend abgegriffen und werden nicht mehr ernst genommen. Sie sehnt sich nach handfesten Perspektiven. Auch der Barmann hat mitgehört, und so beschließe ich, meine Recherche zu beenden.
Robert Lessmann, freier Mitarbeiter des Südwind-Magazins, schrieb in den 1990er Jahren mehrere Studien über die kubanische Wirtschaft; darunter auch „Ausländische Investitionen und wirtschaftliche Strukturreformen“, die über die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Internationale Entwicklungszusammenarbeit, erhältlich sind. Er bereiste im vergangenen Dezember Kuba.
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