In der Sprache der Diplomatie wurde
Durch den Zusammenbruch des Sowjet-Systems am Ende der achtziger Jahre schien sich das alles zu ändern. Diplomatie konnte und durfte plötzlich nicht mehr im Spannungsfeld des Ost-West-Gegensatzes betrieben werden. Erstmals rückte ein Konsens im Sicherheitsrat auch bei sensiblen Fragen regionaler Konflikte in den Bereich des rechtlich Realisierbaren und des praktisch Umsetzbaren. Die Besinnung auf die grundlegenden Werte des „Friedensvölkerrechts“ bescherte der Diplomatie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs somit eine Aufgabe, die zumindest anfangs reizvoll und auch lösbar schien. Ihre nobelste Aufgabe sah sie nunmehr weniger im Erzwingen, Schaffen und Bewahren des Friedens nach einmal ausgebrochenen Gewalttätigkeiten als vielmehr im Verhindern solcher Gewalt.
Daß es Konflikte in und zwischen Gesellschaften geben muß, solange es Menschen gibt, blieb dabei im wesentlichen außer Streit. Insoferne ist der Begriff „Konfliktprävention“ ungenau. Nicht dem Konflikt sollte vorgebeugt werden, sondern seiner gewaltsamen Austragung. Konflikte sind nicht vermeidbar. Mit Einfühlungsvermögen, Phantasie und strikter Gewaltlosigkeit der Vermittler ist es aber möglich, Konfliktsituationen in solche überzuleiten, in denen die Neigung der Beteiligten für eine gewaltsame Lösung geringer und die Verhandlungsbereitschaft höher ist. „Konflikttransformation“ ist also das eigentliche Ziel, und so wird es heute auch zumeist verstanden.
Der Anziehungskraft der Entwicklungspolitik für die Diplomatie liegt vor diesem Hintergrund darin, daß zentrale Sätze der idealistischen Lehren des Wirtschaftstheoretikers Adam Smith und des Philosophen Immanuel Kant durch zwei Jahrhunderte ungeteilte Zustimmung aller modernisierenden Bewegungen (zu denen die Entwicklungspolitik gehört) fanden: Wohlstand für alle schafft Frieden auf der Welt. In dieser Annahme versuchten revolutionäre Marxisten die verarmten Massen zu mobilisieren, so dachten Katholiken ihre Soziallehre, so feierten die Liberalen die Errungenschaften der industriellen Revolution und des freien Handels. Und der Umkehrschluß lehrte die Besitzenden die Angst vor den Besitzlosen. Schließlich treffen sich auch heute „Konfliktprävention“ und Entwicklungspolitik genau in dieser Annahme. Entwicklung wäre demnach nur ein anderes Wort für Frieden, wie es 1967 in der päpstlichen Enzyklika „Populorum Progressio“ verkündet wurde.
Auch die Entwicklungspolitik durchlebte in den letzten Jahren einen tiefen Wandel. Geboren wurde sie aus kolonialem Zivilisierungsdenken und missionarischen Heilsversprechungen. Vom Zweiten Weltkrieg bis etwa Mitte der achtziger Jahre orientierte sie sich am Glauben, ein diesseitiges und globales Paradies für alle Menschen wäre schaffbar. Dann wurde klar, daß der bis dahin euphorisch beschrittene Weg modernisierender Entwicklung in eine Katastrophe führen mußte, die alle treffen würde. Die Reaktion auf diese Erkenntnis hieß „nachhaltige Entwicklung“, besonders gefeiert am Umwelt-Gipfel von Rio 1992.
Das Emblem der „Nachhaltigkeit“ verschleierte den Richtungswechsel. War vorher die Schaffung des Paradieses auf Erden verkündet worden, so ging es ab nun um die Abwendung der Katastrophe. Unglücklicherweise wurde diese Umorientierung nie in ein verbindliches Programm gefaßt. Daher übernahmen die Institutionen der „alten“ Entwicklung ohne Bruch auch die Aufgaben der „neuen“.
Daraus entstand eine babylonische Desorientierung. Die einen wollten die solidarischen Ideale modernisierender Entwicklungspolitik nicht aufgeben, die anderen bestanden fortschrittskritisch auf die neuen. Und die Institutionen versuchten die Quadratur des Kreises, also das pragmatische, spenden- und förderungsträchtige Spiel mit den Reizwörtern beider Richtungen. Das endete nicht selten peinlich, weshalb auch die Evaluierung von Projekten zunehmend einer technokratischen Abwicklungskontrolle glich, in der auf grundsätzliche Fragestellungen über das eigene Tun verzichtet werden durfte.
Diese in vielen Ländern und Organisationen beobachtbare Praxis läßt auf eine nicht unerhebliche Legitimationskrise der Entwicklungspolitik schließen, in welcher der Einstieg in die Konfliktprävention als sinnstiftende Maßnahme höchst attraktiv erscheinen muß. Zudem verlockt die vielerorts recht satte Ausstattung der Entwicklungshilfe-Budgets, sie in den Dienst der politischen Absicht zu stellen.
Heutzutage verfügen alle Entwicklungsorganisationen über einen Stab an felderfahrenen MitarbeiterInnen, die den Umgang mit den „Graswurzeln“ kennen. Die Diplomatie kann dies aufgrund ihrer Aufgaben in der hoheitlichen Verwaltung und der landläufigen Berufswege ihrer ExponentInnen nur im viel geringeren Maß vorweisen. Es könnte daher überlegt werden, erfahrene EntwicklungsexpertInnen in Krisenregionen als KonfliktbeobachterInnen an der Basis einzusetzen, um gleichsam „soziologische Seismographie“ zu betreiben.
Von den Wahlen in Nicaragua bis zur Katastrophe von Ruanda schätzten solche Leute aus ihrem kleinen Umfeld heraus die Lage nachweislich bereits richtig ein, als Presse und hohe Politik sich noch zwischen Spekulation und Hoffnung bewegten. Die politischen Maßnahmen könnten sich also frühzeitig an den Berichten dieser „Sozial-SeismologInnen“ orientieren und der drohenden Gewalt bei der Austragung von Konflikten durch gezielte Maßnahmen vorbeugen. Ein flächendeckender Einsatz solcher „FriedensexpertInnen“ – und zwar auch abseits der prominenten Risikogebiete – wäre ein Fortschritt gegenüber den bestehenden Einrichtungen von „early warning systems“ auf internationaler Ebene.
An dieser Stelle drängt sich aber zuerst die Frage auf, nach welcher Werteskala diese „Sozial-SeismologInnen“ zu messen und zu agieren hätten. Daraus abgeleitet: Nach welchen Maßstäben zögen Diplomatie und Politik ihre Schlüsse? Eines haben die jüngsten Transformationsprozesse in Mittel-Osteuropa wie auch in Lateinamerika bewiesen: Der Zusammenhang von materieller Bedürftigkeit und Gewaltbereitschaft existiert zumindest nicht in dem Maß, wie es uns Smith und Kant glauben machten. Hier spielen andere Größen wie etwa die Frage nach dem Welt- und Friedensbild, verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Hilfs- und Schutzsysteme, patriarchale Strukturen und andere kulturelle Indikatoren eine mindestens ebenso wichtige Rolle.
Materielle Not mag da und dort unmittelbare Ursache für Rebellionen und Aufstände sein. Die aber führen selten zu konzeptuell nachhaltigen Revolutionen. Der Krieg ist eine Domäne der Herrschenden. Dies auch in jener elitären Form des innerstaatlichen Kriegs, der den zwischenstaatlichen zunehmend ablöst.
Hier liegt das zweite Problem aus der solidarisch-engagierten Perspektive: Was hilft alle Erkenntnis der sozialen Vorläufe akuter Gewaltausbrüche, wenn die an der Basis erarbeiteten Informationen zwar auf der Anwendung korrekter Indikatoren beruhen, aber den Interessen der politischen Eliten widersprechen?
Erinnern wir uns an die verzweifelten Appelle der OSZE-MitarbeiterInnen, die damals noch im Kosovo, an der Basis, stationiert waren, gegen das NATO-Bombardement. Sie waren umsonst, weil der politische Entschluß längst gefaßt war, als diplomatisch noch verhandelt wurde. Legitimiert wurde der Angriff mit den Verbrechen der Angegriffenen. Das Argument ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Es war immer richtig und nie ein Argument der Armen oder der Opfer, sondern stets eines, das sich die Herrschenden gegenseitig zuriefen.
Eine der Gewalt vorbeugende Diplomatie, welche die Maximen des „Friedensvölkerrechtes“ konsequent vor die Eigeninteressen der auch und gerade im eigenen Land herrschenden Eliten stellt, und eine Entwicklungspolitik, die auf der Basis richtiger Parameter dieser Diplomatie als Frühwarnsystem dient – wäre das nicht eine schöne Sache?
Was uns derzeit davon trennt ist zweierlei: ein Rechtssystem, welches die „FriedensdiplomatInnen“ von den Weisungen der sie entsendenden Regierungen entbindet; ein gesichertes und praktisch verwendbares Wissen über die Vor- und Abläufe von Gewalteskalationen. Um das zu erarbeiten müßte ein disziplinenübergreifendes Grundverständnis aller Wissenschaften als Friedenswissenschaft geschaffen werden. Eine solche Wissenschaft müßte sich grundsätzlich in den Dienst der Erarbeitung gesellschaftlichen Orientierungswissens stellen und sich nicht mit der kriegerischen Anhäufung faktischen Verfügungswissens begnügen. Zu oft wurde Wissenschaft in der Vergangenheit gerade dadurch zur Geisel gewalttätiger Herrschaftsprojekte.
Soll also „Friedensdiplomatie“ konfliktpräventive Wirklichkeit werden und soll „Entwicklungspolitik“ dazu einen substantiellen Beitrag leisten, so haben wir am Beginn des neuen Jahrtausends vorerst einmal ein entsprechendes Orientierungswissen als Grundlage zu erarbeiten. Zugleich müssen wir eine Fülle ausgelaufener Utopien in unserem Denken entsorgen, um nicht mit neuen Parolen in alte Fallen zu tappen.
Wolfgang Dietrich ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.
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