Wenn die internationale Gemeinschaft nur rechtzeitig Bescheid wüßte, heißt es immer wieder, könnte sie mithelfen, den gewaltsamen Ausbruch von Konflikten zu vermeiden. Das ist so leider nicht richtig, beweist das Beispiel im Gebiet der Großen Seen Afrikas
Die Untätigkeit der internationalen Staatengemeinschaft angesichts der Ermordung von über 800.000 Menschen durch Soldaten und radikale Milizen in Ruanda zwischen April und Juni 1994 bleibt der größte Skandal in der kurzen Geschichte internationaler Friedenssicherung. Und seine Auswirkungen sind bis heute zu spüren – in den wiederholten und offenbar unendlichen Kriegen, die das gesamte Afrika der Großen Seen seitdem erschüttern.
Schon vor dem Völkermord hatte es nicht an Warnungen gefehlt, daß ohne eine starke internationale Präsenz in Ruanda die Befriedung des Landes nicht gewährleistet werden könne. In Ruanda war 1990 ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Sein Hintergrund war in der Massenvertreibung der einst herrschenden Tutsi-Elite von 1959, kurz vor der Unabhängigkeit des damals von Belgien verwalteten Landes, zu suchen. Exilierte ruandische Tutsi, organisiert in der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF), marschierten am 1. Oktober 1990 aus Uganda in Ruanda ein und leisteten sich einen fast dreijährigen Krieg mit der Armee des Hutu-Präsidenten Juvenal Habyarimana, in dessen Verlauf es Tausende Tote und über eine Million Vertriebene gab.
Unter internationaler Vermittlung wurde am 5. August 1993 nach langwierigen Verhandlungen im tansanischen Arusha ein Friedensabkommen geschlossen, das unter anderem die Bildung einer gemischten Armee und einer Allparteienregierung, die Rückkehr der vertriebenen Tutsi und die Entsendung einer internationalen UN-Schutztruppe zur Absicherung des Friedens vorsah. Schon damals aber war vielen Beobachtern klar, daß wichtige Kräfte in Ruanda – bis hinauf in den engsten Machtzirkel um Präsident Habyarimana – keineswegs vorhatten, dieses Abkommen umzusetzen.
Radikale Hutu-Kräfte, die jede Machtteilung mit Tutsi ablehnten, arbeiteten bereits aktiv an der Alternativlösung: Die Tutsi ausrotten. Hutu-Milizen entstanden, radikale Parteien überschwemmten die ruandische Gesellschaft mit hetzerischer Propaganda. Aber die versprochene UN-Truppe kam aufgrund des Widerwillens der Mitgliedsstaaten, die sich gerade erst von dem Schock des Scheiterns der internationalen Militärintervention in Somalia erholen mußte, später und in geringerer Stärke an als geplant. Unter anderem wurden belgische Blauhelmsoldaten aus Somalia nach Ruanda verlegt mit dem Hinweis, jetzt könnten sie sich in einem befreundeten Land ausruhen.
Nicht, daß die UNO nichts geahnt hätte: Ab Dezember 1993 gab es Warnungen, daß ruandische Armeeoffiziere großangelegte Massaker an Tutsi planten; am 11. Januar 1994 erreichte ein mittlerweile berüchtigt gewordenes Fax mit einer solchen Warnung das UN-Hauptquartier, wo Kofi Annan entschied, darauf nicht zu reagieren.
In Kreisen von UN- und anderen Diplomaten war durchaus bekannt, daß ein Völkermord in Planung war. Auch sein Ausmaß wurde nach Aussagen von Beteiligten durchaus vorhergesehen. So konnten die internationalen Entscheidungsträger eigentlich Bescheid über den wahrscheinlichen Ablauf der Dinge wissen, als nach dem noch immer offiziell ungeklärten Abschuß des ruandischen Präsidentenflugzeuges am Abend des 6. April 1994 die radikale Fraktion der Armee in Ruanda die Macht ergriff und der Völkermord begann. Trotzdem wurde nicht eingegriffen. Vielmehr wurde die bereits stationierte UN-Truppe aus Ruanda abgezogen.
Zweieinhalb Monate später erfolgte die nächste internationale Fehlentscheidung. Als das Hutu-Regime zusammenzubrechen begann, entschloß sich Frankreich, engster Verbündeter dieses Regimes, zu einer Militärintervention. Von Zaire aus marschierten französische Soldaten im Westen Ruandas ein, die sich von den mordenden Milizen freudig begrüßen ließen. Unter französischem Schutz rettete sich das geschlagene Regime nach Zaire, unter Mitnahme über einer Million ruandischer Hutu-Bürger.
In Zaire an der Grenze zu Ruanda entstand ab Juli 1994 ein kleines Exil-Ruanda, dessen BewohnerInnen gemäß den geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen Flüchtlingsstatus genossen und großzügig international alimentiert wurden. Jene Bestimmungen, wonach Flüchtlinge mindestens 50 Kilometer von der Grenze ihres Herkunftslandes entfernt angesiedelt werden müssen und keine Streitkräfte unterhalten sollen, wurden ignoriert.
Zugleich bewirkte die ruandische Masseneinwanderung eine soziale Destabilisierung des östlichen Zaire, dessen Bürger sich fremdbestimmt fühlten.
Ab Frühjahr 1996 herrschte in dieser Region Bürgerkrieg. Zaires Regierung erklärte die Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda daraufhin zu unerwünschten Personen. Daraufhin intensivierten die Hutu-Milizen ihre Planungen zu einem gewaltsamen Wiedereinmarsch in Ruanda. Ruandas RPF-Regierung reagierte ab September 1996 mit Angriffen auf Zaires Grenzregion und schließlich mit militärischem Einmarsch, wobei die Entstehung bewaffneter zairischer Rebellengruppen, die die Diktatur von Mobutu Sese Seko stützen wollten, als Tarnung diente.
Erst dann kamen in der internationalen Gemeinschaft wieder Überlegungen zu einer bewaffneten Intervention in der Kriegsregion auf – es galt ja schließlich, Flüchtlinge zu schützen. Die Intervention fand nie statt, Hunderttausende Flüchtlinge wurden vertrieben und viele davon ermordet.
Seit Oktober 1996 wird der Osten Zaires, heute Demokratische Republik Kongo, militärisch von Ruanda kontrolliert – gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft, aber nicht gegen ihren Widerstand.
Aus der Intervention Ruandas und auch anderer Nachbarstaaten in Kongo/Zaire haben sich wiederholte Kriege ergeben, die zum kleineren Teil vom Ausland gefördert, zum größeren Teil von der Welt machtlos hingenommen wurden. Bis heute führen Ruandas Tutsi und Ruandas Hutu auf dem Gebiet des großen Nachbarlandes ihren Bürgerkrieg weiter – ein Zustand, der das Aufflammen unzähliger anderer Konflikte im Kongo begünstigt. Die Scham der UNO über ihre Nichtintervention beim Völkermord von 1994 lähmt sie jetzt bei Versuchen, diesen Krieg einzudämmen.
Heute steht die UNO angesichts dieser Lage vor der Gefahr, die Fehler von Ruanda auch im Kongo zu wiederholen. Genauso wie die traumatischen Erlebnisse in Somalia 1992-93 zu Fehlern in Ruanda verleiteten, werden jetzt aufgrund des Desasters von Ruanda Fehler im Kongo gemacht.
Am 7. Juli 1999 finalisierten die im Kongo kriegführenden Staaten in Sambias Hauptstadt Lusaka ein Friedensabkommen für den Kongo, das dem Arusha-Abkommen für Ruanda von 1993 verdächtig ähnlich sieht: International überwachter Frieden, gemeinsame Armee und Bildung einer Allparteienregierung. Und genauso wie das Arusha-Abkommen vor sechs Jahren wird auch das Lusaka-Abkommen von verschiedenen Seiten blockiert und seine Umsetzung verzögert – auch und gerade von internationaler Seite.
Wieder einmal kümmert sich die Staatengemeinschaft nicht um die Verwirklichung eines Friedensabkommens, auf dessen Zustandegekommen sie selber gedrängt hat. Die versprochene UN-Mission zur Überwachung des Abkommens kommt nicht zustande, und es fehlt nicht an Warnungen, es drohe ein blutiger Krieg. Wiederholte Verstöße gegen das Abkommens seitens der kongolesischen Regierung von Laurent Kabila bleiben ungestraft, und Anfang November drohten die Rebellengruppen des Kongo bereits, das Lusaka-Abkommen nicht mehr einzuhalten, da es schließlich keinen Frieden bringe.
Noch gibt es aus dem Kongo keine Bilder von „Zehntausenden Leichen, die verfaulen und von Hunden angeknabbert werden“. Aber wenn es soweit ist, wird vermutlich wieder ein weltweites Grübeln einsetzen, was denn wohl schiefgegangen sein könnte.
Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur der Berliner Tageszeitung
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